Kommunikations- und Unterhaltungssysteme im Auto werden immer komplexer. Psychologen und Verkehrsexperten sehen die Informationsflut kritisch.
Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen" – dieser Hinweis hing früher in jedem Bus. Zu Zeiten, in denen nicht mal zu erahnen war, welche visuellen und akustischen Signale heute selbst am Steuer eines Kleinwagens zu verarbeiten sind. Und vor allem: Wie darauf zu reagieren ist. Vergleicht man die Bedienungsanleitungen verschiedener Baujahre, wird deutlich, wie sehr sich das Anforderungsprofil eines „Kraftfahrers" geändert hat. Das Handbuch eines Opel Ascona von 1988 beispielsweise umfasste 145 Seiten. 30 Jahre später benötigt die Bedienungsanleitung des Enkels Insignia 347 Seiten fürs Auto – zuzüglich 139 Seiten nur fürs Infotainment. Bei anderen Marken verhält es sich ähnlich.
Erklärt werden muss dem Autofahrer, neudeutsch Anwender, was da so alles über den Bildschirm im Armaturenbrett flimmert. Wo früher hin und wieder mal ein Lämpchen anging, zeigen heute die Displays Warn- und Statusmeldungen von gut 20 Informations- oder Regelsystemen. „Unsere Orientierung im Auto hat sich dadurch drastisch verändert", sagt Dr. Gudrun Gericke. Die Psychologin der Friedrich-Schiller-Universität Jena begründet schon aus ergonomischer Sicht ihre Skepsis an der schönen neuen Autowelt. Tippen, drücken, touchen, scrollen – gut, wenn man als Kontinentaleuropäer Rechtshänder ist. „Linkshänder müssen sich die Fingerfertigkeit im Auto regelrecht antrainieren."
Was physiologisch vielleicht noch angeht, wird psychologisch zum Problem. Nicht für alle, klar. Aber eben doch für einige. Eltern kennen den Begriff der Reizüberflutung, wenn der Nachwuchs angesichts zu voll gepackter Tagesprogramme die Mitarbeit schlicht verweigert. Etwas Ähnliches passiert mit unserem Verhalten im Verkehr, warnen Forscher. Wenn es zu viel wird, verlieren wir die Orientierung. Häufigste Unfallauslöser sind zwar wie gehabt Missachtung der Vorfahrt, Fehler beim Abbiegen oder Wenden, Abstandsfehler und eine nicht angepasste Geschwindigkeit. Nicht eindeutig definierbar ist dabei aber der Grund, der genau solche Fehler provoziert: Ablenkung. Es geht nicht nur ums „Daddeln" auf Bildschirmen, Knöpfchen und Rädchen. Es geht auch ums Thema Telefonieren – selbst wenn Freisprechanlagen genutzt werden. „Nicht nur die Bedienung des Gerätes, sondern auch das Gespräch selbst sind Ablenkungsfaktoren", so Gericke. „Je mehr Vertiefung das Gespräch erfordert, desto gefährlicher wird es." Einerseits ermöglichen moderne Infotainmentsysteme im Auto das Kommunizieren, während die Hände am Lenkrad bleiben. Der Sicherheitseffekt aber ist dahin, wenn bei Tempo 160 übers Telefon tiefgreifende Probleme gewälzt oder ganze Quizrunden bei Radiosendern gespielt werden.
„Orientierung hat sich drastisch verändert"
Das Fahren an sich, so die Bedenken, werde zunehmend zur Nebensache. Und damit auch die Wahrnehmung wirklich fahrrelevanter Informationen. „Der Mensch ist evolutionär so entwickelt, dass er nicht-intendierte Verhaltensweisen entwickelt", erklärt Gericke. „Werden wir von Informationen überschüttet, suchen wir uns die vermeintlich wichtigen heraus." Ob das aber auch die sinnvollsten sind, bleibt ein Lotteriespiel. Beispiel: Möglicherweise ist im Display das Ergebnis eines Bundesligaspiels für unser Hirn in diesem Augenblick wichtiger als die Info, dass die Außentemperatur soeben unter den Gefrierpunkt gefallen ist.
Das Kommunikationsumfeld in Fahrzeugen steht mittlerweile auch bei Arbeitspsychologen auf der Agenda, seitdem immer mehr Büros auf die Straße verlagert werden. Dienstwagenfahrer erledigen heutzutage viele administrative Aufgaben im Auto. Kundengespräche, Bestellungen, Termineinträge, Fahrtenbuchbedienung – all das läuft vom Lenkrad aus. „Hier werden zwei Aufgabenbereiche zunehmend vermischt. Die eigentliche Fahraufgabe und die Aufnahme oder Verarbeitung von Informationen", meint Benno Gross vom Institut für Arbeitssicherheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA). Unser menschliches Problem damit: Wir sind nicht wirklich multitaskingfähig, also nicht in der Lage, mehrere Dinge dauerhaft gleichzeitig zu erledigen. Deshalb müsse sich die Gestaltung solcher Informationssysteme ganz klar an der Fahraufgabe orientieren und nicht umgekehrt, fordert Gross.
Leider gibt es aber noch keine normativen Gestaltungsvorgaben für fahrzeugintegrierte und nachträglich fest verbaute Geräte", klagt der Arbeitswissenschaftler. Das gelte für ergonomische Aspekte gleichermaßen wie für den Gebrauch von Software. Unzählige Apps lassen sich heute in die Infosysteme laden – und während der Fahrt bedienen. Die Forderungen von Gross sind klar umrissen: „Vertretbar sind nur Anwendungen, die keine nennenswerten Blickabwendungszeiten erfordern. Die Interaktionszeiten müssen so kurz wie möglich sein." Die Gesetzgebung aber hinke noch zurück. So sei es zwar verboten, im Auto ein Smartphone aufzunehmen oder zu halten. Erlaubt sei aber die Bedienung von integrierten oder fest in einer Halterung arretierten Geräten. Mit zum Teil hoch komplexen Bedienungsabläufen.
Belastbarkeit des Menschen begrenzt
Dass die technischen Möglichkeiten zur Verringerung von Ablenkungsgefahren besser ausgeschöpft werden, ist auch für den Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) eine zentrale Forderung. „Die Belastbarkeit des Menschen ist nun mal begrenzt", konstatiert Geschäftsführerin Ute Hammer. Ablenkung sei inzwischen der vierte „Killer", nach Fahren ohne Gurt, unter Alkohol und mit überhöhter Geschwindigkeit. Von Entwarnung ist keine Rede. 2.443 Verkehrstote in Deutschland verzeichnet die Statistik für den Zeitraum Januar bis September 2018, ein Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Wie viele davon Opfer einer Ablenkung waren, lässt sich nicht klären. Denn die Definition von Ablenkung ist offenbar genauso schwierig wie der Weg, sie zu vermeiden. „Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen" – was heute so anachronistisch klingt, war vermutlich nicht die schlechteste Idee.