Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ist seit 18 Monaten im Amt und laut Umfragen beliebtester Politiker in seiner Heimat. Das Land boomt, trotzdem rechnet Kretschmer mit unklaren Verhältnisse im sächsischen Landtag.
Herr Kretschmer, Sie haben im Land eine sehr starke Wirtschaft, eine niedrige Arbeitslosigkeit und trotzdem viele Protestwähler – das ist doch geradezu paradox?
Ich bin viel im Land unterwegs und spreche mit den Menschen. Dabei wird deutlich, dass vor allem die Arbeit der großen Koalition in Berlin zu Unzufriedenheit führt. Die Menschen erleben, dass in Berlin Dinge angekündigt werden, die dann doch nicht umgesetzt werden. Stichwort Grundrente: Wir haben uns in den Koalitionsverhandlungen auf die Einführung einer Grundrente verständigt. Gerade in den neuen Ländern würden viele Rentnerinnen und Rentner profitieren. Doch stattdessen verhindert die SPD durch eine überzogene Position, dass die Grundrente beschlossen wird, indem sie von getroffenen Vereinbarungen nichts mehr wissen will. Wenn Politik nicht verlässlich ist, muss man sich nicht wundern, wenn ihr die Menschen das Vertrauen entziehen. Man erwartet von uns, dass wir Entscheidungen treffen.
Ist die Stärke der AfD auch ein Ergebnis ungleicher Lebensverhältnisse? Viele Menschen in den ländlichen Regionen haben doch das Gefühl, sie sind abgehängt.
Wenn sich Menschen abgehängt fühlen, dann müssen wir sie wieder anhängen. Einige Wissenschaftler haben uns ja geraten, die Förderung des ländlichen Raums einzustellen und stattdessen alles auf die großen Städte wie Dresden, Leipzig und Chemnitz zu konzentrieren. Die Hälfte der Sachsen lebt im ländlichen Raum. Solche „Ratschläge" sind ein Schlag ins Gesicht all dieser Menschen. Deshalb ist unsere Strategie auch das genaue Gegenteil. Wir werden ländliche Regionen in besonderem Maße fördern: Ausbau des schnellen Internets, mehr Ärzte durch eine Landarztquote, mehr Polizisten vor Ort, ein dichteres ÖPNV-Netz, Förderung des Ehrenamts und vieles mehr.
Wie wollen Sie aus einer Kohleregion eine Hightech-Landschaft machen? Der Bund hat zwar 40 Milliarden in Aussicht gestellt, aber nur über Jahrzehnte …
Auf jeden Fall gilt es jetzt, keine Zeit zu verlieren. Das Strukturstärkungsgesetz muss schnell beschlossen werden. Die zugesagte Unterstützung für den Strukturwandel gibt vor allem der Lausitz Chancen, die diese Region nie zuvor gehabt hat. Wir müssen nun zügig an den Ausbau der Infrastruktur gehen: Straßen, Schienen, Radwege, Breitband. Es muss uns gelingen, dass der Bau von Straßen und Schienenwegen in wenigen Jahren realisiert werden kann und keine Generationenaufgabe ist. Dafür brauchen wir ein Planungsbeschleunigungsgesetz. Eine gute Infrastruktur – und dazu ist heutzutage auch zwingend eine flächendeckende Breitbandversorgung zu zählen – ist die Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. Und wir benötigen natürlich besondere Anreize für die Neuansiedlung von Unternehmen, Industrie und Forschung. Die Kohleregionen müssen zu Sonderwirtschaftszonen werden.
Soll diese Sonderwirtschaftszone aus dem Geld des auslaufenden Solidarzuschlags finanziert werden?
Nein, muss sie ja nicht. Die Bundesregierung hat uns ja 40 Milliarden Euro für diese notwendigen Strukturmaßnahmen zugesagt, und das Geld müssen wir klug einsetzen. Zum Beispiel mit einem eigenen Bundesverkehrswegeplan. Dazu kommt das Planungsbeschleunigungsrecht. Und nicht zu vergessen: die Unterstützung der Europäischen Union für die Ansiedlungen neuer Unternehmen. Das ist die Quelle für den anstehenden Strukturwandel. Dabei ist der Breitbandausbau ein zentrales Zukunftsthema. Wo es kein schnelles Internet gibt, werden sich weder Familien noch Unternehmen niederlassen. 700 Millionen Euro investieren wir als Freistaat dafür zusätzlich. In keinem anderen Bundesland ist der Zuwachs gegenwärtig so stark wie in Sachsen. Wenn man das dann mit den anderen Regionen vergleicht, dann ist das hier eine Sonderwirtschaftszone.
Ist etwas Ähnliches in den westdeutschen Bergbauregionen denkbar?
Das Entscheidende ist ja wirklich, dass wir jetzt beim Ausstieg aus der Braunkohle das Versprechen halten, das die Bundesregierung gegeben hat. Erst neue Arbeitsplätze, neue Wertschöpfung, neue Perspektiven, bevor Altes endet. Darum muss jetzt erst mal der Schwerpunkt auf diesen Regionen liegen.
Aber in den grenznahen Regionen scheint ja weniger eine Sonderwirtschaftszone Thema zu sein, sondern vielmehr die Kriminalität aus dem Osten.
Die Kriminalität in den Grenzregionen ist seit Jahren rückläufig. Seit 2014 ist die Zahl der Delikte um fast ein Viertel gesunken. Aber das reicht natürlich noch nicht. Ich bin Bundesinnenminister Seehofer dankbar, dass er zusätzliche Bundespolizisten nach Sachsen entsendet. Die Zusammenarbeit zwischen der sächsischen Polizei, der Bundespolizei, aber auch mit den tschechischen und polnischen Kollegen funktioniert gut, muss aber noch weiter intensiviert werden. Die Schleierfahndung wollen wir auf Autobahnen und Bundesstraßen ausweiten.
Mit dem Thema hat ihnen 2017 Tino Chrupalla von der AfD ihren Bundestagswahlkreis Görlitz abgenommen. Jetzt wird es für Sie in ihrer Heimatstadt wieder knapp. Wird die AfD für Sie zum Trauma?
Die AfD lebt davon, tatsächliche oder auch nur vermeintliche Probleme zu beschreiben, zu übersteigern und zu instrumentalisieren. Unser Anspruch als CDU ist es, gemeinsam mit den Menschen Lösungen zu finden und die Dinge zu klären. Die AfD hingegen freut sich über jedes Problem, was noch nicht gelöst ist, da sie es als Treibstoff für ihren Populismus verwenden kann.
Eine Koalition mit der AfD schließen Sie ja nach der Wahl auf jeden Fall aus. Jetzt gibt es die Idee einer CDU-Minderheitsregierung – wäre das ein Weg für Sie?
Ich kann mir keine Minderheitsregierung vorstellen. Ich sehe noch das Beispiel Sachsen-Anhalt vor mir, die Minderheitsregierung war Gift für dieses Land. Die Zeit des Wandels von der analogen in eine digitale Gesellschaft ist eine Riesenchance für diejenigen in Sachsen, die die Zukunft des Landes positiv gestalten wollen. Darum braucht es eine stabile Regierung jenseits von AfD und Linkspartei, die verlässlich wichtige Zukunftsentscheidungen trifft.
Die Wähler Ihres Landes sind nicht ganz einfach, immerhin sind drei deutsche Revolutionen von hier ausgegangen. Auch ein Grund, warum das Regieren in Sachsen nicht ganz so einfach ist?
Wir Sachsen sind ein stolzes Volk mit reicher Geschichte und Kultur. Wir sehen die Dinge sehr klar und lassen uns auch kein X für ein U vormachen.
Gleichzeitig sind wir Sachsen sehr heimatverbunden und werden schnell kritisch, wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte. Diese direkte, ehrliche, aber gleichzeitig auch anpackende Art ist für die Sachsen typisch.
Sind die Menschen hier politisch sehr misstrauisch? Als eine Lehre aus DDR-Zeiten, als Sachsen als „Tal der Ahnungslosen" galt?
Mit einer solchen Überheblichkeit sollten wir nicht übereinander sprechen. Richtig ist, dass für jeden, der in der DDR aufgewachsen ist und gelebt hat, diese Zeit Teil seiner Lebenserfahrung geworden ist. Die Menschen reagieren sehr sensibel auf Bevormundungen, Einschränkungen und erzieherischen Eifer politischer Akteure oder staatlicher Institutionen.
Sie selbst gelten in der CDU als wertkonservativ. Sie sind gegen Homo-Ehe und haben 2016 einen Aufruf zur Leitkultur initiiert. Ist Ihre Parteichefin Kramp-Karrenbauer für Sie eine Idealbesetzung?
Annegret Kramp-Karrenbauer macht einen sehr guten Job als Parteivorsitzende. Sie hat einen klaren Kompass und keine Scheu, auch zu heiklen Themen klar und deutlich Position zu beziehen. Nach der Wahl zur Parteivorsitzenden hat sie es geschafft, die gesamte Breite der CDU als Volkspartei zusammenzuführen.
Bei wie vielen Wahlkampfauftritten ist denn die CDU-Chefin dabei?
Ich freue mich, dass sie uns mit mehreren Terminen im Wahlkampf unterstützen wird.
Aber mit der Bundespolitik kommt man hier nicht so richtig gut an. Ist das immer noch das Ergebnis des Flüchtlingssommers 2015?
Am 1. September ist die Sachsenwahl. Die Wählerinnen und Wähler entscheiden an diesem Tag nicht über die Politik in Berlin oder Brüssel, sondern ganz konkret darüber, wie es mit Sachsen weitergeht.
Wir können mit einer sehr guten Leistungsbilanz der vergangenen 18 Monate Regierungsarbeit vor die Menschen treten und haben viele Ideen für die kommenden Jahre.
Wie hat denn die Kanzlerin Mitte Juli auf das Pfeifkonzert in Dresden reagiert?
Viele Menschen haben sich über den Besuch der Bundeskanzlerin in Dresden und Görlitz gefreut.
Nun gab es ja einiges Hin und Her um die Kandidatenliste der AfD. Dabei haben die Verfassungsrichter eine Wahlrechtsreform angemahnt. Wird diese nach der Landtagswahl kommen?
Natürlich muss man das vor dem Hintergrund, wie das gelaufen ist, gründlich analysieren. Das sollten wir ganz in Ruhe nach der Landtagswahl besprechen.
Ein Randthema in Ihrem Wahlkampf: Sie fordern die umgehende Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind seit über fünf Jahren in Kraft. Bei der Lösung des Problems, wegen dem sie überhaupt erst verhängt wurden, haben sie uns keinen Schritt vorangebracht. Ganz im Gegenteil. Noch immer sterben täglich Menschen in der Ostukraine.
Von Befriedung kann keine Rede sein. Das Minsker Abkommen von 2015 muss umgesetzt werden. Dazu braucht es eine neue Gesprächsinitiative auch aus Europa in Richtung Russland. Ich mache mich für ein gutes, friedvolles Verhältnis und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland stark.
Es gibt ein Foto aus Sankt Petersburg von Ihnen mit dem russischen Präsidenten – sind Sie ein Putin-Versteher?
Ich möchte, dass der Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißt. Deutschland und Russland haben immer wechselseitig sowohl ökonomisch als auch sicherheitspolitisch davon profitiert, wenn beide Länder eng zusammengearbeitet haben. Gute Beziehungen zu Russland liegen nicht nur mir, sondern einer Mehrheit der Sachsen am Herzen.