Hunderttausende Menschen erleiden jährlich einen Schlaganfall. Es sind aber nicht nur ältere Menschen betroffen, sondern auch viele junge. Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schäbitz ist Chefarzt der Klinik für Neurologie am Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld. Im Interview spricht er über Risiken, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Schlaganfällen.
Herr Professor Schäbitz, wie viele Menschen sind in Deutschland jährlich von einem Schlaganfall betroffen?
270.000 Menschen haben jährlich in Deutschland einen Schlaganfall. Damit muss man dann schon von einer Volkskrankheit sprechen.
Das sind immerhin rund 0,3 Prozent der Bevölkerung. Hat sich diese Zahl im Lauf der Jahre erhöht?
Wir müssen sehen, dass die Bevölkerung älter wird und sich die Diagnosemethoden verfeinern. Deshalb ergibt sich im Endeffekt eine Steigerung der Fallzahlen. Dafür haben sich allerdings auch die Therapiemöglichkeiten sowohl in der Sekundärprävention als auch in der Akuttherapie verbessert, sodass, wenn es den demographischen Effekt nicht geben würde, die Fallzahlen eigentlich sinken würden.
Wir werden auch immer älter. Ist der Schlaganfall etwas, das eher ältere Menschen betrifft?
Es ist eine Erkrankung des fortgeschrittenen Erwachsenenalters. Dennoch muss man sagen, dass ein Schlaganfall auch bei Jüngeren nicht selten vorkommt. 15 bis 20 Prozent sind juvenile Schlaganfälle, also solche bei Menschen, die jünger als 50 oder 55 sind. Das ist fast jeder fünfte Fall. Man sieht aber auch 20-Jährige oder 30-Jährige, die einen Schlaganfall bekommen. Das ist etwas Gängiges. Die Ursachen bei den jüngeren Patienten sind aber andere.
Welche?
Bei den Älteren sind es die klassischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck und Vorhofflimmern, die sich im Verlauf eines Lebens entwickeln. Das spielt jetzt bei Jüngeren keine Rolle. Bei ihnen sind es etwa Dissektionen von Gefäßen. Das bedeutet, dass Gefäße entlang ihrer Gefäßwand einreißen und sich verschieben. Dann entstehen Hämatome. Aber auch strukturelle Herzerkrankungen können bei jungen Menschen ein Grund sein, ebenso wie Stoffwechselstörungen und Hormonstörungen, etwa bei der Pille oder eine Schwangerschaft.
Die Anti-Baby-Pille ist ein Risikofaktor?
Sie ist nicht automatisch ein Risikofaktor, aber kann bei jüngeren Frauen eine mögliche Ursache für einen Schlaganfall darstellen. Das muss man dann im Einzelfall prüfen. Wenn eine junge Frau einen Schlaganfall bekommen hat und die Pille nimmt, würde man ihr raten in Zukunft auf andere Verhütungsmethoden zurückzugreifen.
Welche anderen Risikofaktoren gibt es?
Risikofaktoren sind Bluthochdruck, Vorhofflimmern, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Nikotinabusus, Bewegungsmangel, Übergewicht und Schlafapnoesyndrom.
Sie sprachen eben von einem Schlaganfall durch ein Hämatom in der Gefäßwand. Erklären Sie das bitte genauer.
Solch eine Gefäßdissektion kann etwa durch ein Trauma beim Sport entstehen. Dann wird eine Arterie gequetscht, gerissen oder gezerrt. Das passiert zum Beispiel beim Ringen manchmal. Es gibt aber auch Fälle, wo jemand einen Ball oder Ähnliches abbekommt. Dann kann die Arterie traumatisiert werden. Es kommt dann zu Einblutungen. Durch diese Raumforderung wird das Gefäß verlegt. Wenn sich die Gefäßwand entzündet kommt es zu einer Hämatombildung. Das Hämatom wiederum führt dazu, dass sich das Gefäß lokal einengt oder verschließt. Und dieser Verschluss kann lokal eine Gerinnselbildung zur Folge haben. Eine Auflagerung von Gerinnseln kann von dort aus sekundär einen Schlaganfall bewirken.
Äußert sich ein Schlaganfall immer mit den gleichen Symptomen?
Ja. Die Symptome sind immer gleich: Sehstörungen, ein halbseitiger Gesichtsfeldausfall, Sprachstörungen, Lähmungen am Bein oder Gesichtslähmungen, halbseitige Sensibilitätsstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen – diese können alles Hinweise auf einen Schlaganfall geben.
Was, wenn ich nichts davon mitbekomme? Kann ein Schlaganfall zum Beispiel im Schlaf passieren?
Das kann durchaus passieren. Man beobachtet eine circadiane Rhythmik. Das bedeutet, dass etwas von der Tageszeit abhängig ist. Im Falle des Schlaganfalls ist zu beobachten, dass er eher am frühen Morgen passiert. Deshalb gibt es das Bild des Wake-up-Strokes. Man wacht auf und hat einen Schlaganfall.
Woran liegt das?
Woran das liegt, ist eine gute Frage. Es gibt noch keine endgültige Antwort darauf. Man denkt aber, dass das mit der Blutdruckveränderung zu tun hat, ebenso mit Hormon- und Stoffwechselschwankungen.
Was sollte man im Notfall tun?
Ganz einfach: Die 112 anrufen und zwar so schnell wie möglich. Das muss man immer machen, denn durch diesen Anruf wird die Rettungskette aktiviert. Das Wichtigste ist, so schnell wie möglich in die Klinik zu kommen. Wenn man erst zum Hausarzt geht, kann es schon zu spät sein.
Denn mit jeder Sekunde verliert man Hirnzellen. Kann man sagen, wie viele?
Die Faustregel ist: Pro Minute gehen zwei Millionen Hirnzellen kaputt.
Weil das Gehirn unterversorgt ist?
Genau, wenn das Gefäß sich verschließt, wird das nachgeordnete Versorgungsgebiet nicht mehr durchblutet. Da fehlen Sauerstoff und Glucose. Passiert ein Schlaganfall, tickt die Uhr. Denn dort, wo das Gehirn nicht mehr versorgt ist, sterben von Minute zu Minute mehr Nervenzellen ab.
Wann entstehen irreparable Schäden?
Bereits nach einer Minute, dadurch, dass eben dann schon Nervenzellen sterben. Dieses wirkt sich klinisch zum Glück meistens nicht direkt aus. Aber Fakt ist einfach, dass jede Minute zählt. Es gibt Therapien, wie die Thrombolyse oder Thrombektomie, die sehr zeitkritisch sind. Deswegen ist jede Minute wichtig, das kann man nicht oft genug sagen.
Ist das mit einem Herzinfarkt zu vergleichen, bei dem ebenfalls jede Sekunde zählt?
Ja, der ischämische Schlaganfall ist ähnlich wie der Herzinfarkt. Aber die Besonderheit ist, dass das Krankheitsbild Schlaganfall deutlich komplexer ist. Es gibt bei Schlaganfällen zum Beispiel auch Gehirnblutungen. Dann tritt Blut ins Gehirn aus infolge eines geplatzten Gefäßes. Das ist generell eine andere Pathologie. So etwas gibt es am Herzen nicht. Und wenn man die Spätfolgen betrachtet, ist der Langzeitschaden im Gehirn größer als am Herzen nach einem Herzinfarkt.
An wen wende ich mich, wenn ich wissen will, ob ich schlaganfallgefährdet bin?
Es geht darum, das Risikoprofil herauszufinden. Dafür kann man zum Hausarzt gehen. Dieser ist der erste Ansprechpartner und wird den Patienten entsprechend beraten und weiterleiten. Es gibt Spezialambulanzen für Gefäßerkrankungen bei besonders komplizierten Fällen. Diese sind für eine primäre Risikoevaluation aber meistens zu spezialisiert.
Bin ich besonders gefährdet, wenn es in meiner Familie bereits einen Schlaganfall gab?
Ja. Man darf sich das aber nicht so vorstellen, dass ein einzelnes Gen betroffen ist. Wenn in einer Familie vaskuläre Erkrankungen häufig auftreten, ist es sehr wahrscheinlich wie bei Tumorerkrankungen, dass die Nachkommen ein erhöhtes Risiko haben.
Also zum Hausarzt zu gehen. Sollte doch ein Schlaganfall passiert sein, liegt vor dem Patienten in der Regel eine lange Rehaphase. Wie läuft sie ab?
Das hängt stark von den Symptomen ab. Je leichter der Schlaganfall war, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Patient wieder auf die Beine kommt und so wird wie vorher. Die übliche Dauer einer Rehabehandlung sind drei Wochen. Wenn der Patient aber sehr schwer betroffen ist, wird das in der Regel nach Bedarf verlängert. Patienten, die leichter betroffen sind, haben auch die Möglichkeit in eine ambulante Reha zu kommen.
Ist nach einer Zeit die Hoffnung verloren, Dinge neu zu lernen, wenn der Patient merkt, dass er lang braucht?
Sie sprechen auf Symptome wie das Verlernen des Sprechens an, eine Aphasie. In solch einem Fall können auch Monate, teils sogar Jahre nach dem Schlaganfall noch Erfolge erzielt werden. Aber je schwerer das Defizit ist und je weiter man sich vom Schlaganfallereignis entfernt, desto unwahrscheinlicher wird letztendlich die komplette Regeneration.
Kann man sagen, wie viele Patienten sich komplett erholen?
Ja. Man sagt, von 100 Schlaganfallpatienten hat etwa die Hälfte nur einen leichten Schlaganfall erlitten. Dazu gehören auch flüchtige Schlaganfälle. Bei ihnen gibt es vielleicht eine leichte Lähmung oder Sprachstörung, die sich komplett zurückbildet. Die andere Hälfte teilt sich auf in sehr schwere Schlaganfälle, bei denen es keine komplette Heilung gibt und mittelschwere Schlaganfälle, bei denen meistens Symptome zurückbleiben.
Was sind flüchtige Schlaganfälle?
Man nennt sie transitorische ischämische Attacke, kurz TIA. Dabei handelt es sich um eine kurze Durchblutungsstörung des Gehirns, die neurologische Ausfallerscheinungen hervorruft. Kurzfristig wird ein kleineres gehirnversorgendes Gefäß verschlossen, das sich von selbst wieder öffnet. Es entstehen vielleicht Sprachstörungen, Lähmungen et cetera, die nach zehn Minuten oder einer halben Stunde aber wieder vorbei sind.
Deshalb: Bei solchen Symptomen immer den Notruf wählen?
Auf jeden Fall!