FORUM-Wanderexperte Günter Schmitt hat gemeinsam mit seiner Beaglehündin Emma sieben Wochen die lothringisch-saarländische Grenze erkundet. Seine Erlebnisse erscheinen im kommenden Jahr im Herbst in seinem Buch „Grenztagebuch". Hier ein Auszug.
Das Grenzdorf Leidingen erreiche ich am frühen Nachmittag. Keine Menschenseele ist zu sehen in dem Dorf, das durch die lothringisch-saarländische Grenze zweigeteilt ist. Der kleinere Teil mit nur wenigen Häusern gehört zu Frankreich, der größere Teil gehört zu Deutschland. Die Grenze verläuft mitten durchs Dorf auf der Dorfstraße, die auf der einen Seite Neutrale Straße, auf der anderen Seite Rue de la Frontière heißt. Am Ortseingang steht zweisprachig: „Bienvenue – Willkommen in Leidingen".
Mein Quartier für die nächsten Wochen befindet sich oberhalb von Leidingen am Waldrand, das ehemalige Pfarrhaus im französischen Teil Leidingens. Das Haus ist seit einigen Jahren ein Ferienhaus. Von dort werde ich mit meiner Hündin Emma nach spannenden Geschichten an der lothringisch-saarländischen Grenze stöbern.
Die erhofften Sonnenstrahlen, die Emma und mir einen sonnigen Einstieg in unser Grenzabenteuer bereiten sollten, fallen am nächsten Morgen nicht ins Schlafzimmer. Stattdessen prasseln unaufhörlich Regentropfen auf meinen Fenstersims.
Nebel hat sich übers Land gelegt, von meinem Logenplatz einige Höhenmeter über Leidingen sind die Dächer der einzelnen Dörfer, die ich gestern noch gut erkennen konnte, nicht mehr zu sehen. Sie sind eingepackt in dicke Nebelwatte.
Auf der Wiese vor meiner Unterkunft schüttelt ein Feldhase Regentropfen aus seinem Fell, einige Rotschwänzchen versuchen unter dem Dachüberstand ein trockenes Plätzchen zu finden. Raben stieben mit lautem Krähen in den nahen Wald. Sonst ist es still im Grenzland zwischen Lothringen und dem Saarland.
Meine Wetter-App weckt Hoffnung: Das Regenband, das übers Land zieht, soll am frühen Nachmittag vorbeigezogen sein. Tatsächlich schälen sich bereits am späten Vormittag erste Sonnenstrahlen aus dem grauen Himmel und verzaubern die hügelige Wiesen- und Feldflur mit ihren verschiedenen Grüntönen. Doch der Wind drückt weitere Regenwolken übers Land und überschüttet es mit weiterem Nass. Später reißt der Himmel auf, die dunklen Wolken ziehen Richtung Nordosten, während sich der Himmel von Westen in sommerliches Blau färbt.
Wir sind bereit für den ersten Grenzgang. Von meiner Unterkunft haben wir schnell die Neutrale Straße und damit auch die Grenze erreicht. Mein GPS-Gerät navigiert mich durchs Dorf, vorbei an der Manufaktur „Grenzglück" und dem Atelier „Grenzenlos". Am Ende der Bebauung weht auf der rechten Seite die Fahne der Bundesrepublik Deutschland, auf der linken Seite die von Frankreich. An den Feld- und Wiesenrainen wächst die weiß blühende, wilde Möhre und ab und an rote Farbtupfer von Klatschmohn.
Einige Kilometer folgen wir dem Wanderweg „Grenzblickweg." Als ich im vergangenen Herbst den Weg mit einigen Freunden wanderte, sahen wir viele Grenzsteine links und rechts der geteerten Straße und auch später entlang des Feldwegs. Heute zeigt sich kein einziger Grenzstein auf den ersten Blick, sie sind zugewachsen von Gras und den Feldfrüchten, überwuchert von Brennnesseln und Holunderbüschen.
Aussichten ins offene Land in jeder Blickachse und in jede Himmelsrichtung, ein Fest für Seele und Geist. Die Landschaft berauscht, nirgendwo ist eine Menschenseele zu sehen, wir wandern durch eine ausgedehnte Feldflur. Von einer Bank ein erster Blick ins tief unten liegende Saartal. In einigen Wochen werden wir zwischen der Landeshauptstadt Saarbrücken und dem lothringischen Saargemünd entlang der Saar unterwegs sein. Zwischen den beiden Städten wird die Saar zum Grenzfluss.
Den mit weißen Muschelkalksteinen übersäten Feldweg müssen wir nun verlassen. Unmissverständlich zeigt mein GPS-Gerät an, dass die Grenzlinie nach rechts mitten durchs bestellte Feld verläuft. Die Rapsfrucht ist über einen Meter hoch gewachsen. Im Nachbarfeld haben es die Weizenhalme fast genauso hoch geschafft. Ich hatte mir vorgenommen, immer und überall auf der Grenzlinie unterwegs zu sein. Aber hier ist kein Durchkommen. Bereits am ersten Tag meiner Grenzwanderung muss ich meinen Plan ändern.
Wir bleiben auf dem Feldweg, der uns Richtung Guerstling bringt. Der Feldweg mündet in die Rue de la colline, die wenig später auf die Rue de la libération trifft. Dieser Straße folgen wir nach rechts, überqueren später alte Bahngleise zum alten Bahnhofsgebäude von Guerstling. Am „Kiosque à Baguettes" kann man für einen Euro ein Baguette aus dem Automaten bekommen. Ich werde es demnächst testen.
Das Bahnhofsgebäude steht außerhalb des Ortes zwischen Deutschland und Frankreich. Ein Zaun trennt das Gebäude von den Bahngleisen, ein trostloser Ort wie aus einer anderen Zeit.
Nicht weit vom alten Bahnhofsgebäude außerhalb von Guerstling verläuft die Grenze durch einen zehn Meter breiten Dickichtgürtel parallel zur D 65 Richtung Guerstling. Dort könnte ich nur mit einer Machete vorankommen. Nur zwei Meter von der Grenzlinie entfernt wandern wir über eine saftig grüne Weide, bis uns ein Stacheldrahtzaun daran hindern will weiterzugehen. Emma hat schnell den Zaun durchschlüpft, ich hieve meinen Rucksack über den Zaun und komme ohne Blessuren an den spitzen kleinen Fleischspießen vorbei.
Über eine Wiese gelangen wir rasch zur Nied. Unterwegs eröffnen sich herrliche Blicke ins Niedtal und nach Niedaltdorf. Als wir an der Nied zwischen Niedaltdorf und Guerstling ankommen, weiß ich sofort: Hier kommen wir nicht ans andere Ufer. Der Böschungsgraben, drei Meter hoch, fällt auf beiden Seiten steil ins Wasser. Die Nied hat hier eine Breite von zehn Metern, die Tiefe ist ungewiss.
In den nächsten Wochen werden wir an der Grenze immer wieder an unsere Grenzen stoßen: Undurchdringbare Grüngürtel, Stacheldraht, Elektrozäune, private Grundstücke, Autobahnzäune, morastige Sumpfgebiete wie an der Bist, im Schafbachtal oder an der Schwalb sowie die Flüsse Mosel, Saar, Nied oder Blies stellen sich uns in den Weg.
Emma erschrickt und läuft weg
Am vierten Tag folge ich mit Emma dem Wiesenweg vor Fürweiler, der als Grenzweg Fürweiler ausgeschildert ist. Allerdings müssen wir bereits nach wenigen Minuten diesen Weg verlassen, die Grenzlinie verläuft halblinks ins Tal. Die Grenze ist mit einem fünf Meter breiten Grüngürtel aus Gestrüpp, Hecken und Bäumen zugewachsen. Sowohl von Deutschland als auch von Frankreich ist bis unmittelbar an diesen Grüngürtel die Saat ausgebracht. Ich entscheide mich auf der französischen Seite zu laufen, hier scheinen wenige Zentimeter mehr Platz zu sein.
Den Grüngürtel hinter uns, entsteht eine neue Situation: linker Hand, eingezäunt mit einem Elektrozaun, großflächiges Weideland mit jungen, weißen Rindern, auf der rechten Seite befindet sich weiterhin ein dicht gesätes Kornfeld. Zwischen Elektrozaun und Feldfrüchten balancieren wir auf der Grenzlinie. Am Ende des Feldes beginnt ein fast unbegehbares Waldstück. Ich wage es trotzdem, will nicht schon wieder die Grenzlinie verlassen. Oberhalb eines Kerbtales bewege ich mich nach den starken Regenfällen des Vortages auf rutschigem Untergrund, mehrmals kann ich mich gerade noch an Ästen und Zweigen festhalten, bevor ich ins Rutschen oder Rollen komme. Nicht ungefährlich.
Wir erreichen am Ende eines steilen Abstiegs das Tal des Oligbachs. Dort verläuft die Grenze nach rechts durchs Bachbett des Oligbachs. Hier erreicht kein Sonnenstrahl den Boden, es ist dunkel, schattig und feucht. Mit der Schönheit der weiten Landschaft von gestern hat diese Wegpassage nichts zu tun. Der Stacheldrahtzaun der Weide, die bis ins Tal zum Bach führt, ist auch im Bachbett unter Strom gesetzt. Mithilfe eines Stockes kann ich den Zaun am hinteren Ende überwinden. Als Emma zu mir gelangen will, bekommt sie einen Stromschlag. Mit Gejaule sucht sie das Weite und ist nicht mehr zu sehen. Ich stehe da wie angewurzelt, schreie Emmas Namen in die menschenleere Welt, ich brülle und rufe, doch Emma ist weg.
Ich muss ihr nach, schießt es mir durch den Kopf. Ich überwinde in Windeseile den Stromzaun, taste mich über die glitschigen Steine im Bachbett und rutsche, als ich das Bachbett verlasse, auf dem von den Rindern aufgeweichten Boden aus und liege der Länge nach im Matsch. Schnell komme ich wieder auf die Beine, rufe nach Emma und hechle so gut ich kann den steilen Aufstieg hinterher. Emma bleibt verschwunden.
Als ich den oberen Teil der Weide durchquere und weiter nach Emma rufe, kommen die weißen Rinder über die Koppel galoppiert, direkt auf mich zu. Mein Rufen hat sie wohl erschreckt. Ich schnalle den Rucksack ab, werfe ihn über den Elektrozaun und rolle mich blitzschnell unter dem 30 bis 40 Zentimeter hohen Stromzaun hindurch. Gerettet! Verdutzt bleiben die Rinder hinter dem Zaun stehen. Schnell einige Fotos, dann muss ich weiter und rufe weiterhin Emmas Namen in die Landschaft. Die Zeit rast, von Emma weit und breit keine Spur. Im hohen Kornfeld wäre sie, falls sie sich dort befände, nicht auszumachen. Vielleicht ist sie Richtung Auto gelaufen und wartet dort – hoffe ich.
Nachdem ich das Kornfeld verlassen habe, laufe ich über eine abgemähte Wiese. Meine Stimme versagt. Schweißgebadet, verdreckt von oben bis unten schleppe ich mich über die Wiese. Plötzlich kommt Emma schwanzwedelnd um die Ecke. Ich stelle den Rucksack ab, lasse mich ins nasse Gras fallen, bin glücklich, als mir Emma durchs Gesicht schleckt. Wir haben uns wieder.