Das „Fragrances" orientiert sich daran, wofür der Name steht – an Düften. Barchef Arnd Henning Heißen ist die „Obernase" in der Bar des Ritz-Carlton. Er sorgt seit fünf Jahren dafür, dass sich die Hauptnoten exklusiver Parfums in sorgsam komponierten Drinks widerspiegeln.
Eigentlich waren wir zu viert im „Fragrances" im Ritz-Carlton. Die trinkfreudige Begleiterin, der Feinschmeckerfotograf und ich hatten Gesellschaft von Marge Simpson. Kleinere Abweichungen vom Comic-Original gab’s in der Flüssigversion dennoch: Statt Etuikleid einen schlanken, dunklen Longdrink-Becher, anstelle von blauer Turmfrisur trug Marge eine aus weißer Zuckerwatte. Ob die echte Marge leicht rauchig schmeckt, wird wohl allein Ehemann Homer wissen. Aber ohne jede Frage: Der „Gourmand Coquin"-Drink, der so sehr an die Comicfigur erinnert, überraschte in schlichter, schwarz-weißer Anmutung. Dabei steht der schokobetonte Guerlain-Duft mit Rose und Pfeffer-Noten, nach dem Barchef Arnd Henning Heißen den Drink kreierte und benannte, für das Gegenteil: Luxus und Wohlleben in nicht wenig üppiger Form.
Es gab also einen guten Grund, weshalb ich beim Defilee entlang der Duft-Kojen im Eingang des „Fragrances" dort hängen blieb: Schokolade ist genau mein Ding, und an einem der ersten kühleren Oktoberabende durfte es gern etwas heimeliger werden. Ich hatte mich nur mit der Nase orientiert und nicht auf die Beschreibungen in den kleinen Schubladen oder die Flaschen-Kunstwerke unter Glasstürzen geachtet. „Dass ich mal einen Drink mit Talisker Storm wählen würde, hätte ich nicht gedacht", entfährt es mir, als Arnd Heißen uns die einzelnen Bestandteile unserer Kaltgetränke genauer erklärt. Die Zuckerwatte-Frisur ergibt Sinn: Das whiskybasiert Flüssige tritt beim Daran-Vorbeitrinken auf den ersten Schluck recht rauchig in den Vordergrund. Das Schokoladig-Weiche kommt erst anschließend nach. Das Zuckerhaar ist notwendig, damit der Drink nicht ins eindimensional Unsüße fällt. „Pfeffer symbolisiert Stärke, Rose Empathie", erklärt Heißen. „Schokolade und der Drink insgesamt stehen dafür, dass man sich gern Gutes und Luxus gönnt." Das kann ich unterschreiben.
Marge Simpson zum Trinken
Mit den 16 charakteristischen „Fragrances"-Drinks können sich die Gäste ausgiebig beschäftigen. Sie bieten Schnupper- und Gesprächsanlässe. Oder machen einfach nur Lust auf ein gutes alkoholisches Kaltgetränk, das ganz ohne Beschäftigung mit dem theoretischen Überbau trinkbar ist. Aber wir wollen das ganze Programm: mit Schnupperorgie und mit Kaffeebohnen zwischendrin zum Neutralisieren der strapazierten Nase. Mit Poesie, Erklärungen und ganz viel Hin- und Herprobieren. Es ist kein Wunder, dass die Begleiterin den herben „Aventus" nach dem Duft von Creed wählte. Der Duft führt Amber, Moschus, Ananas und grünen Apfel mit sich. „Der ist nicht sehr verspielt", meint die Begleiterin. „Er ist zwar mit Himbeere, aber sehr ernsthaft." Die gefriergetrockneten pinken Fruchtperlen auf dem Eisblock sind ein Hingucker und kontrastreiche Ergänzung. „Die Ananas steht für Euphorie und Stärke, Johannisbeere für Abwechslung, Rose für Empathie", sagt Arnd Heißen. „Deine Familie bedeutet dir viel und steht dir nahe, nicht wahr?" Die Begleiterin bejaht. Grüner Apfel symbolisiere die Familie, in der man aufgewachsen sei, Moschussamen Vertrauen. Heißen ist das Drink-Orakel, die Cocktails sind seine Tarot-Karten.
Die Erfahrung und Menschenkenntnis des Barchefs, dem nach neun Jahren im „Curtain Club" und fünf Jahren mit dem „Fragrances" als Zweitbar im Ritz-Carlton nichts Menschliches fremd sein dürfte, treffen auf eine feine Nase und aroma-therapeutische Ansätze. Auf sie stützt sich Heißen bei seinen Interpretationen. Das vielleicht manchem als exaltiert erscheinende Konzept ist speziell, macht aber genau deswegen so viel Spaß. Zu einer Bar im Neo-Art-Déco-Stil passt eine originelle und extravagante Note. Klar, die zehnköpfige Barcrew des Ritz-Carlton mixt hüben wie drüben ebenfalls klassischere Drinks. Das gehört sowieso zum Repertoire und guten Ton. Der generalüberholte und täglich geöffnete „Curtain Club" bekam zum Jahresbeginn eine lateinamerikanische Ausrichtung und gibt sich seither unkompliziert. „Eine Bar muss immer das Gefühl vermitteln ‚Hier darf ich alles‘", sagt Arnd Heißen. „Man muss sich nicht beweisen, wenn man zu uns kommt. Man kann die Karte einfach aufschlagen, ohne Ahnung zu haben." Oder die Nase an die Flakons halten und auswählen, was gefällt und zur Stimmung passt.
Barfood aus benachbartem Pots
Einmal im Jahr ist die Entwicklung neuer Drinks für die neue „Fragrances"-Saison angesagt. Das Team scoutet Düfte, fokussiert Aromen und baut diese mit Alkohol, Früchten, Gewürzen und Infusionen als Getränke nach. Einzige Voraussetzung: „Die Düfte müssen natürliche Bestandteile haben, denen man mit den Drinks nahekommen kann", sagt Heißen. Der Hauptbestandteil ist beim „Intoxicated"-Drink nach dem gleichnamigen Kilian-Parfum schon von außen erkennbar: Kaffee. Der Fotograf bekommt eine Tasse „türkischen Mokka" mit deutlicher Kardamom-Note plus einem angeschärften Chili-Keks gereicht. Das „Berauschende" entsteht mit Mokka-Geist auf eine lebendige, energiegeladene Art. Mokka, Kardamom, Zimt und Muskat charakterisieren den Drink – eine komprimierte Sonnenallee im weiß-goldenen Mokkatässchen.
Die Spirituosen stammen häufig aus kleinen, spezialisierten Destillerien, gern auch aus der Stadt: Der Mokka-Geist etwa stammt von der „Deutschen Spirituosen Manufaktur" aus Marzahn; der Keks von der „Aera"-Bäckerei in Charlottenburg. Ein Limettengeist wiederum wird von Hiebl aus Österreich bezogen.
Nach dieser ersten nicht alkoholarmen Probierrunde feiern wir erst einmal eine „Nacho Party". Aus der Küche vom benachbarten „Pots"-Restaurant kann Barfood dazu geordert werden. Der Teller mit überbackenen Tortilla-Chips hat so gar nichts mit den Kino-Plastikschalen mit Analogkäsesoße zu tun. Ein Glück! Auf den Chips lagern ein echtes, würziges Ragout mit Fleisch und ordentlicher, aromatischer Käse. Salat wurde in Gestalt von Cocktailtomaten und Frühlingszwiebelringen eingebaut. Wir lassen nichts davon übrig, obwohl wir noch ein schön angeschärftes Beef Tatar mit Avocados und Sour Cream sowie einen Ritz-Carlton Burger mit selbstgemachten Pommes erhalten haben.
Wenn’s etwas süßer, aber nicht minder substanziell sein soll, gibt’s Churros mit drei Saucen. Die ausgebackenen spanischen Kringel sind verblüffend unfettig. Sehr angenehm. Sie können in Joghurt-, Mango- und Karamellsoße gedippt werden. Das Barfood hält dem Anspruch der Drinks und dem Können der Bartender locker stand.
Jahrmarkt-Rummel im Glas
In der zweiten Runde wählen wir alle drei Sake-basierte Drinks. Im „My Name" nach einem Trussardi-Parfum schwimmen Baiser-Hütchen in heller Champagnerschale auf einem milchig-weißen See. Das Gemisch aus Rhododendron-Sake, Veilchenlikör und Lavendelbitter erhält seinen opaken Look und eine frische Note durch Naturjoghurt, der mit einem Sirup mit Mandeln, Vanille und Moschus unterlegt ist. Das ist alles sehr leicht, schwebend und elegant. Eine andere Barbesucherin begegnet mir beim Schnuppern an den Parfumflaschen. „Das wäre nichts für mich, viel zu süß", sagt sie angesichts der recht jasminigen Noten des Parfums. Auch ich stelle fest: Es gibt Düfte, die mag ich gern riechen, könnte mir aber nicht vorstellen, sie im Glas und ihre Aromen im Mund zu haben. „Fleurs d’Oranger" von Serge Lutens ist so einer; für diesen Abend ist mir die intensive Orangenblüte zu viel. Wahrnehmung und Reaktion auf die Düfte sind tagesform- und stimmungsabhängig – spannend!
Weder an meine Haut noch ins Glas würde ich persönlich den herben Duft von Urban Scents, den die Begleiterin wählte, lassen. In einem eiförmigen brauen Deckelbecher verbirgt sich mit viel Understatement eine klare „Vetiver Reunion". Ein Kobe Classic Sake vereint sich mit Mezcal, Grapefruit-Geist, Verjus und einem Sirup mit Honig und Vetiver. Mir persönlich wär’s viel zu rau und holzig, aber die Begleiterin ist sehr angetan. Insbesondere als sie den obenauf platzierten Grapefruit-Kaviar am Gaumen zerplatzen lässt.
Der Fotograf dagegen will eine Runde über den Rummel drehen – sein Drink trägt Noten von Popcorn, Karamell und Vanilleeis in sich. In diesem „White Not" nach dem Duft von Avery verbirgt sich ein Gen Mai Sake, der mit einem fünf Jahre gereiften Plantation Rum, Limettengeist und Cointreau gemixt wurde. Vanille, Tonka-Bohne und Salzkaramell sind die warmtonig bestimmenden Noten des Drinks, der in Deko-Sahnetuffs mit Honig, Jasmin und Rose dagegenhält. Karamell-Popcorn und -Crisp bringen Knack und das wohlige Kinderglück-auf-dem-Rummel-Gefühl.
Oh ja, wir haben getrunken und zwar gar nicht mal so wenig. Das große Spiel mit Konzept, Düften, Sinnen und dem Rausch auf allen Ebenen macht einfach Spaß. Gut, dass die Parfümerien in den benachbarten Einkaufszentren längst geschlossen haben, als wir das „Fragrances" verlassen. Sonst müsste ich gleich in die nächste hineinlaufen und würde mir sofort einige neue Düfte kaufen.