In der Medizin entstehen durch Robotik oder Künstliche Intelligenz (KI) neue Behandlungsmethoden. Eine neue Plattform namens „XplOit" soll Krankheitsverläufe in der Transplantationsmedizin vorhersagen.
Die Anwendungsfelder von Künstlicher Intelligenz sind vielfältig. KI ist ein Teilgebiet der Informatik, welche sich mit der Automatisierung von intelligentem Verhalten und dem maschinellen Lernen befasst. Ihre Methoden und Einsatzmöglichkeiten beginnen mehr und mehr Branchen zu durchdringen, dazu gehören die Automobilindustrie, das Finanzwesen oder die Schwerindustrie – und die Medizin. Die Stärken von KI liegen besonders bei der Analyse von großen Datenmengen, der Suche nach Mustern sowie bei der Unterstützung von Entscheidungen in sehr komplexen Situationen. In der Medizin ist der mögliche Verlauf von Krankheiten und die rechtzeitige Intervention im Ernstfall ein interessantes Anwendungsgebiet, ebenso die Diagnostik mittels Bild- und Patientendaten. Aber wie können KI und damit in Verbindung stehende riesige Datenbanken dabei helfen, Komplikationen zu vermeiden und Therapien zu verbessern?
Die Idee, dass KI eine entscheidende Hilfe für schwer kranke Menschen bieten kann, ist aktuell Gegenstand verschiedener Forschungsvorhaben an Kliniken und wissenschaftlichen Instituten. Grundlagenforschung braucht viel Zeit, Entwicklungszeiträume von bis zu zehn Jahren sind dabei nicht selten. Aufgrund der Komplexität kommt es dabei immer wieder zu Verbundprojekten, in denen Firmen, Kliniken und Forschungsinstitute ihre Kompetenzen und Ressourcen bündeln.
Eines dieser Vorhaben verfolgt derzeit ein nationaler Forschungsverbund unter der Leitung des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT mit Sitz im saarländischen Sulzbach: Mit der neuen Plattform „XplOit" konnten Vorhersagemodelle von Krankheitsverläufen in der Transplantationsmedizin entwickelt und erprobt werden. Durch den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz soll zukünftig die Patientenversorgung verbessert und das medizinische Personal entlastet werden. Das Verbundvorhaben wird von einem international erfahrenen Team von Experten aus den Bereichen Medizin, Systembiologie, Computerlinguistik sowie Medizin- und Bioinformatik umgesetzt. „XplOit" bereitet Datenbestände so auf, dass sie für die systemmedizinische Forschung nutzbar werden, um Transplantationen erfolgreicher zu machen.
Mithilfe von KI Patientenversorgung verbessern
Erste prädiktive KI-Modelle für die allogene Stammzelltherapie (eine Stammzellentransplantation bei der Spender und Empfänger nicht identisch sind, im Gegensatz zur autologen Transplantation) wurden im Frühjahr bei einer internationalen Fachkonferenz in Frankfurt präsentiert, über drei Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit stecken bisher in dem komplexen Vorhaben. Projektkoordinator Diplom-Informatiker Stephan Kiefer vom IBMT erklärt: „Die umfangreiche Analyse von Patientendaten schafft erstmals die Option für die Vorhersage des individuellen Krankheitsverlaufs. Mit den Prototypen der Vorhersagemodelle sind wir seit März in der klinischen Validierung und verfeinern unsere Ergebnisse." Die aus der Analyse der Daten gewonnenen komplexen Vorhersagemodelle werden also jetzt zunächst in einer klinischen Untersuchung auf ihre Genauigkeit hin überprüft, bevor sie in der Praxis erfolgreich eingesetzt werden können.
Forschungsvorhaben wie „XplOit" sollen einen entscheidenden Impuls zur personalisierten, zielgerichteten und verantwortungsvollen Nutzung von digitalen Daten für die Medizin geben. Und möglichst vielen Betroffenen in Zukunft eine bessere, personalisierte Behandlung ermöglichen: Individualisierte, risikoadaptierte Behandlungen und die Nachsorge über viele Medizindisziplinen hinweg sind das Ziel, um Langzeitfolgen frühzeitig zu diagnostizieren und adäquat zu behandeln. Für den Alltag in deutschen Kliniken sind Vorhersagemodelle noch wünschenswerte Zukunftsmusik, aber ihr Einsatz wird stetig greifbarer wie auch realistischer.
Gegenwärtig stellt sich die Situation so dar: Wenn eine Strahlen- oder chemotherapeutische Behandlung von Leukämien oder Lymphomen keinen ausreichenden Erfolg bringt, ist die Transplantation von Blut- oder Knochenmarkstammzellen in der Regel die einzige Chance auf Heilung. Viele Patienten sterben bisher leider trotz Transplantation, oft durch spontan auftretende Infektionen, Spender-gegen-Empfänger-Reaktion und Wiederauftreten. Die neuartigen Vorhersagemodelle für den individuellen Krankheitsverlauf sollen diese bekannten Risiken beherrschbarer machen. Im Idealfall weisen die vorhandenen physiologischen Daten des Patienten schon vor Eintreten schwerer Komplikationen auf genau diese hin. Die KI lenkt also frühzeitig den Blick ganz konkret auf den ungünstigen Faktor, welcher die Gesundheit des Patienten nach der Transplantation am wahrscheinlichsten bedrohen wird.
Der Hintergrund: In Deutschland erhalten jährlich über 3.000 Patienten eine allogene Stammzellentransplantation. Aufgrund von Fortschritten in der Therapie überleben viele Patienten zwar länger als früher, aber haben daher ein erhöhtes Risiko für Langzeitkomplikationen. Diese können die Lebensqualität erheblich beeinflussen, wie die folgenden Zahlen zeigen: Zehn Jahre nach einer Stammzellentransplantation entwickeln 50 bis 70 Prozent der Patienten eine chronische Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion. Transplantatempfänger weisen zudem ein erhöhtes Infektionsrisiko auf, weshalb vorbeugende Impfungen empfohlen sind. Einzunehmende Medikamente oder eine Hämosiderose (überhöhte Eisenkonzentration im Blut) können die Leberfunktion beeinträchtigen. 40 bis 50 Prozent der Patienten leiden an Störungen des Fettstoffwechsels aufgrund der Therapie, die mit Herzinfarkt, arterieller Verschlusskrankheit und Schlaganfall einhergehen können. Die Lebenserwartung ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung vermindert.
Arzt trifft auch in Zukunft die endgültigen Entscheidungen
In der gesamten Medizin sind Daten eine wichtige Grundlage, um die Möglichkeiten von KI zu erschließen. Andere Problemstellungen in der Medizin weisen den Weg: So gibt es beispielsweise schon von KI unterstützte Diagnostik im Bereich der radiologischen Bildgebung. Die Durchdringung maschineller Methoden und Systeme in der Medizin hat derzeit eine ganz neue Ebene erreicht. Das können drei weitere Beispiele gut zeigen: Bei der Diagnose von schwarzem Hautkrebs erzielt KI bessere und schnellere Ergebnisse als erfahrene Hautärzte. „In der Radiologie erleben wir derzeit eine mathematische Revolution, die schneller und tiefgreifender ist als alle Umbrüche zuvor", sagte Anfang dieses Jahres Stefan Schönberg, Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft. Lernende Roboter können bestimmte Routineverfahren im Rahmen von Operationen schon heute besser durchführen als ein Chirurg, der müde werden kann und deswegen fehleranfällig ist.
Übernehmen also in Zukunft die Maschinen samt KI die Macht bei der Frage, wie wir genesen oder gepflegt werden? Künstliche Intelligenz soll nach gegenwärtiger Vorstellung Therapien verbessern, aber sie nicht alleine bewältigen. Sie soll Daten schneller und anders verarbeiten als ein Arzt, um sie diesem zweckbezogen zum Wohl eines Patienten bereitzustellen. Die endgültige Entscheidung aber obliegt weiterhin dem Mediziner. Die medizinischen Fachverbände sind sich hierbei insofern einig, als dass KI vordringlich dort eingesetzt werden soll, wo sie nachweisbar großes Potenzial hat. So machen es KI und Big Data möglich, schwere Krankheiten wie beispielsweise einige Krebsarten deutlich wirksamer zu bekämpfen, weil die genetischen Codes von Zellen und die dazugehörigen Rezeptoren auf den Zelloberflächen bestimmt werden können. Bei Leukämie im Kindesalter gibt es dort schon messbare Erfolge. KI ist aus der heutigen Medizin nicht mehr wegzudenken. Ihre Anwendungsfelder werden zunehmen, die Arbeit mit ihr wird selbstverständlicher. Und verändert deswegen langsam nicht nur Diagnostik und Therapien, sondern auch das Berufsbild von Ärzten und medizinischem Personal in unseren Kliniken.