Wenn es um das Tabuthema Sterbehilfe geht, tun sich die meisten europäischen Länder in der Rechtsprechung sehr schwer. Dabei nimmt Deutschland zwischen dem restriktiven Polen und den liberalen Niederlanden eine Mittelposition ein.
Der ehemalige saarländische Ministerpräsident Peter Müller wurde wegen möglicher Befangenheit außen vor gelassen, als der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts Mitte April 2019 die Verhandlungen über die von Sterbehilfe-Vereinen, einigen todkranken Patienten und einer Reihe von Ärzten eingereichten Klagen gegen den seit Dezember 2015 in Kraft getretenen Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches aufnahm. Schließlich hatte der Müller schon 2006 im Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, der inhaltlich weitgehend identisch mit der später von der Mehrheit im Bundestag unter Aufhebung des Fraktionszwangs verabschiedeten Regelung war. Deren Zielsetzung bestand darin, professionelle Sterbehilfe als Dienstleistung und Geschäftsmodell, die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung", zu verbieten: „Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
Gewissensfreiheit verletzt
Die gegen den Paragrafen 217 klagenden Patienten berufen sich auf ihr Persönlichkeitsrecht und leiten daraus ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ab. Die Sterbehilfe-Vereine sowie die Ärzte sehen durch das Verbot ihre Berufs- und Gewissensfreiheit als verletzt an. Aus Sicht der klagenden Mediziner stellt Paragraf 217 nicht ausreichend sicher, dass im Einzelfall geleistete ärztliche Hilfe von Strafverfolgung frei bleiben kann, auch wenn bislang noch kein einziges Strafverfahren gegen Ärzte eingeleitet wurde. Beispielsweise kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Schwerkranker ein ihm verschriebenes schmerzstillendes Mittel in hoher Dosierung zur Selbsttötung nutzen könnte. Ob sich die Karlsruher Richter bei ihrem wahrscheinlich erst 2020 zu erwartenden Urteil allein auf die Bewertung der Verfassungsmäßigkeit des Paragrafen 217 beschränken oder ob sie darüber hinaus möglicherweise auch Aussagen zum Recht auf einen selbstbestimmten Tod treffen werden, ist völlig ungewiss. Nur eines ist sicher, dass es in Sachen Suizid einen recht großen rechtlichen Klärungsbedarf gibt, weil in Deutschland „die Sterbehilfe bisher nicht Gegenstand expliziter gesetzlicher Regelungen" ist, wie es das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften auf seiner Webseite klar formuliert hat. Den Druck auf Karlsruhe dürfte auch ein im März 2017 vom Leipziger Bundesverwaltungsgericht erlassenes Urteil erheblich erhöht haben, bei dem die Richter den Staat „im extremen Einzelfall" in die Pflicht genommen hatten, unheilbar Kranken den Zugang zu wirksamen Betäubungsmitteln für „eine würdige und schmerzlose Selbsttötung" zu ermöglichen. Natrium-Pentobarbital, das den Patienten ohnmächtig macht und nach Lähmung der Atmung im Schlaf durch Ersticken zum Tode führt, wird gemeinhin als schonendstes Medikament angesehen. Für die Zuteilung der Betäubungsmittel ist das Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte verantwortlich, es hat aber bislang noch keinen einzigen der 125 bei ihm nach dem höchstrichterlichen Urteil von Leipzig eingegangenen Anträge genehmigt, weil Gesundheitsminister Jens Spahn dies per Nichtanwendungserlass bis zur Veröffentlichung des Bundesverfassungsgerichtsurteils untersagt hatte.
„Fast nirgendwo auf der Welt ist die Rechtslage so kompliziert wie hierzulande" in Sachen Sterbehilfe, wie die „Zeit" jüngst völlig zu Recht konstatiert hatte. Der Suizid als solcher ist nach deutschem Recht allerdings kein Straftatbestand, folglich bleibt theoretisch auch die Beihilfe zum Suizid straflos. Doch so einfach ist es halt nicht, vielmehr gibt es jede Menge rechtliche Grauzonen. Dabei muss im Einzelfall in der Rechtsprechung geprüft werden, ob Straftatbestände wie Fremdtötung/Mord (Paragraf 211), Totschlag (Paragraf 213), Tötung auf Verlangen (Paragraf 216) oder unterlassene Hilfeleistung (Paragraf 323c) tangiert werden.
Im Allgemeinen wird zwischen vier Formen der Sterbehilfe unterschieden. Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Sie wird, auch wenn sie auf ausdrückliches Verlangen des Getöteten erfolgt, beispielsweise durch Verabreichung einer Giftspritze, gemäß Paragraf 216 mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Erlaubt ist hingegen die passive Sterbehilfe, worunter der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen bei Schwerstkranken wie etwa eine künstliche Ernährung, Reanimationsversuche oder der Einsatz von Beatmungsgeräten verstanden wird, sofern dafür eine ausdrückliche Willenserklärung des Betroffenen oder eine Patientenverfügung vorliegt. Falls keine eindeutige Willensbekundung des Patienten vorliegen sollte, können Ärzte und Angehörige gemeinsam und möglichst einvernehmlich eine Entscheidung zum Sterbenlassen im Sinne des Betroffenen treffen.
Zwei Ärzte freigesprochen
Gestattet ist auch die indirekte Sterbehilfe, sofern das Einverständnis des unheilbar Kranken vorliegt. Dabei wird in Kauf genommen, dass das Verabreichen stark schmerzlindernder, aber nicht direkt tödlicher Betäubungs- oder Schmerzmittel auf Dauer eine lebensverkürzende Wirkung haben kann. Auch Beihilfe zur Selbsttötung/assistierter Suizid ist erlaubt, sofern sie nicht „geschäftsmäßig" (Paragraf 217) betrieben. Voraussetzung ist allerdings, dass der Schwerkranke das von einer Zweitperson, in der Regel einem nahen Angehörigen, bereitgestellte Medikament selbst und aus freiem Entschluss einnimmt. Ärzten wird durch die Berufsordnung der Bundesärztekammer die Beihilfe zur Selbsttötung offiziell untersagt, aber nicht alle Landesärztekammern haben dieses Verdikt akzeptiert. Im Juli dieses Jahres sprach der Bundesgerichtshof zwei Ärzte, die bei zwei Selbsttötungen assistiert hatten, vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung frei.
In den meisten unserer europäischen Nachbarstaaten ist die rechtliche Lage in Sachen Sterbehilfe noch restriktiver als in Deutschland. In Polen ist jegliche Form von Sterbehilfe, sogar der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, verboten, am liberalsten wird das Tabuthema in den Beneluxstaaten und der Schweiz gehandhabt. In Schweden ist die Sterbehilfe ähnlich wie in Deutschland geregelt. In Ländern wie Österreich, Frankreich, Großbritannien, Irland, Dänemark, Italien, Spanien, Ungarn oder der Slowakei sind aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid untersagt, passive Sterbehilfe erlaubt. In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe verboten, erlaubt ist die ärztlich assistierte Selbsttötung und die Suizid-Beihilfe mittels Bereitstellung todbringender Medikamente auch durch Sterbehilfe-Vereine wie Dignitas. In den Niederlanden sind sämtliche Formen von Sterbehilfe straffrei, sie dürfen allerdings erst nach strenger Prüfung durch zwei Ärzte auf ausdrücklichen Wunsch des unheilbar kranken Patienten durchgeführt werden. Ähnliche Regelungen gelten in Belgien und Luxemburg. Zudem ist in den Niederlanden und in Belgien die aktive Sterbehilfe sogar für Kinder und Jugendliche erlaubt, in den Niederlanden gilt eine Altersgrenze von zwölf Jahren, in Belgien wird auf jegliche Altersbeschränkung verzichtet. In den Niederlanden wurde in den letzten Jahren sogar darüber debattiert und 2017 schon ein Gesetzesentwurf erwogen, die Sterbehilfe auch gesunden, älteren Menschen, die den Lebenswillen verloren haben oder die ihr Erdendasein als erfüllt ansehen, zu ermöglichen.