In Chicago haben kriminelle Banden eine lange Tradition. Doch längst sind die Konflikte zu einem Krieg in den sozialen Brennpunkten geworden. Die Entwicklung ist besorgniserregend.
Durch Schussverletzungen sterben 18 Menschen – an einem Wochenende. Es ist einer der Höhepunkte der vergangenen Jahre, den die Stadt Chicago am letzten Oktoberwochenende 2016 vermelden muss. Ein schauerlicher Rekord, den die Stadt erreichte, die seit den Zeiten Al Capones zu den kriminellen Hauptstädten der Vereinigten Staaten gehört. Mehr als 600 verfeindete Gangs ziehen dort inzwischen durch die Straßen und gefährden bei ihren Bandenkriegen regelmäßig Menschen. Das Jahr 2016 war nicht nur wegen des besagten Wochenendes im Oktober ein trauriges Rekordjahr. Tatsächlich fielen in Chicago in dem Jahr so viele Menschen einem Verbrechen zum Opfer wie zuvor fast 20 Jahre lang nicht mehr. 762 Morde zählte die Polizeistatistik in der Stadt, was einem Anstieg von fast 60 Prozent im Vergleich zum Jahr 2015 entsprach. Wie die „Washington Post" berichtete, seien in Chicago im Jahr 2016 mehr Menschen getötet worden als in New York City und Los Angeles zusammen.
Mehr als 600 verfeindete Gangs in der Stadt
Auch in diesem Jahr ist die Zahl der Morde hoch. Von Jahresbeginn bis August zählten die Behörden in Chicago rund 1.600 Menschen, die von Kugeln getroffen wurden. Mehr als 300 von ihnen starben. Verantwortlich für die hohe Gewaltrate macht die Polizei vor allem die Banden. Die Zahl der beschlagnahmten illegalen Waffen sei von 2015 auf 2016 um 20 Prozent auf 8.300 gestiegen. Die Strafen sind laut Polizei zu gering. Die Justiz sei in den Augen der Verbrecher ein Witz. Bei all dem schaut die Politik weitgehend tatenlos zu. Im Sommer besuchte US-Präsident Trump Dayton in Ohio und El Paso, Texas. Zwei Orte, an denen Amokschützen viele Menschen getötet hatten. Chicago ist auf der politischen Landkarte aber ein grauer Fleck. Die Regierung scheint sich für die Toten der Stadt am Lake Michigan nicht zu interessieren, denn es gibt entscheidende Unterschiede zu anderen Orten des Verbrechens in den Vereinigten Staaten. Während andernorts politisch motivierte Taten passieren, spielen sich die Morde in Chicago vor allem im Gangmilieu der Ghettos ab. Oft schießen Afroamerikaner auf Afroamerikaner, es geht um Drogen und Revierstreitigkeiten. Die Zahl solcher Opfer war in diesem Jahr weit höher als die von Amokläufen.
Lediglich im Wahlkampf hatte sich Donald Trump für die traditionelle demokratische Hochburg Chicago interessiert und großspurig angekündigt, die tödliche „Horror-Show" durch resoluteres Eingreifen der Sicherheitskräfte „binnen einer Woche" beenden zu können. Bei der örtlichen Polizei löste das nur Kopfschütteln aus. Denn zwischen 2001 und 2016 kamen in der Metropole rund 7.900 Menschen durch Waffengewalt um. Etwa halb so viele US-Soldaten kamen während des gesamten Irak-Kriegs ums Leben. Seinen neuen Spitznamen hat Chicago deshalb weg: Chi-Raq. Die Tageszeitung „Chicago Tribune" zitierte kürzlich eine besorgte Mutter mit den resignierten Worten: „Für Jugendliche ist es heutzutage wahrscheinlicher, einen tödlichen Querschläger abzubekommen, als die Schule zu beenden."
Das war nicht immer so. Die Bandenkriminalität ist auch heute nicht die einzige Kriminalität in Chicago. Die kriminellen Banden vor der Prohibition setzten sich aus den damaligen Einwanderern zusammen – Iren, Juden und vor allem Italiener. Vor allem die Black-Hand-Gang, die aus sizilianischen Einwanderern bestand, sorgte für Aufsehen und kontrollierte Little Italy. Giacomo „Big Jim" Colosimo begründete die organisierte Kriminalität in Chicago. Sein Neffe Johnny Torrio, der aus New York stammte, galt bald als sein starker Arm. Er brachte im Jahr 1919 Al Capone in die Stadt, der wie Torrio ein Mitglied der Five Points Gang in New York City gewesen war. Es war die Geburtsstunde des Chicago Outfit. Heute gilt dieses italo-amerikanische Mafia-Syndikat als einzige selbstständige Organisation der Cosa Nostra außerhalb New York Citys, das nicht von den dort ansässigen fünf Familien kontrolliert wird. Die Mafia-Familien in New York und Chicago bilden heute das Rückgrat der Cosa Nostra in den Vereinigten Staaten.
Die Mafia agiert heute eher im Verborgenen
Im Gegensatz zur modernen Gangkriminalität in Chicago, die sich hauptsächlich um Fehden zwischen den einzelnen Banden dreht, operiert die Mafia seit dem Ende der Prohibition zu einem großen Teil weit über die Stadtgrenzen hinaus. Die Mafia musste sich nach neuen Betätigungsfeldern umsehen und expandierte in den Westen. Neue Formen der Kriminalität waren Gewerkschaftskorruption, legales und illegales Glücksspiel und Kreditwucher. Der Einfluss des Chicago Outfit greift zum Teil bis auf Teile Kaliforniens und Floridas. Die Mafia hatte dadurch sogar Einfluss auf Hollywoodproduktionen.
Noch heute ist das Chicago Outfit aktiv. Als amtierender Boss gilt Salvatore „Solly D." DeLaurentis. Im Gegensatz zu den in aller Welt wahrgenommenen Banden und deren Morden agiert die Mafia weitgehend im Verborgenen und organisiert sich strukturierter. Unter dem Familienoberhaupt gibt es einen Underboss, der als Nummer zwei stellvertretender Direktor ist. Auf derselben Ebene gibt es den Consigliere, den Berater der Mafiafamilie und oft ein ausgedienter Boss. Unter ihnen stehen die Vollmitglieder, die „Made Men" (gemachte Männer) und die Assoziierten, die nicht zur Familie gehören, aber für sie arbeiten.
Was für die Öffentlichkeit sichtbar bleibt, sind die Gang-Konflikte. Und auch in Sachen Bandenkriminalität gab es im Lauf der Jahre eine Entwicklung. Der neueste Trend bei den kriminellen Banden ist das sogenannte Cyber-Banging. Gang-Banging steht für die Auseinandersetzungen zwischen Gangs auf der Straße. Die Gangmitglieder drohen einander auf Youtube, Facebook und Instagram. Sie posieren mit Waffen und provozieren über Livestreams. Eine Entwicklung, die Experten alarmiert. „Weil junge Leute ihre Reputation wahren wollten, fühlten sie sich genötigt, negativen Kommentaren etwas entgegenzusetzen. Das führt offline durchaus zu Gewalt, die eskalieren könne, wenn die Betroffenen Waffen hätten", warnte der Professor an der New Yorker Columbia-Universität im März des vergangenen Jahres in einem „Spiegel"-Interview. Der Forscher hat gemeinsam mit seinen Kollegen das Safe Lab gegründet, in dem sie Ursachen und Prozesse von Gewalt analysieren. Bis sich durch solche Projekte die Kriminalität in Chicago verringern lässt, ist es aber noch ein weiter Weg.