Ein Bürgergeld könnte die Akzeptanz für Windräder bei Anwohnern stärken, meint die SPD. Lassen sich Gegner so überzeugen? Oder können Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung solche Konflikte lösen? Ein Fallbeispiel.
Die Tierärztin Antje Berndt ist schnell unterwegs in ihrem grauen VW Caddy. Gleich will sie noch frisch geschlachtete Rinder begutachten. Aber erst mal holpert sie auf den kleinen Parkplatz, hält vor dem Holztisch mit Bänken. Von der Hügelkuppe überschaut sie nun Schönheit und Elend der Prignitz, Brandenburgs einsamer Westzipfel.
Viel Himmel, weite Felder, ein paar Häuser sind hinten im Novembernebel mehr zu erahnen als zu sehen. „Es ist hier nicht still", sagt Berndt. Zwischen ihr und dem Dorf steht ein Dutzend weißer Türme, an deren Spitzen sich die Flügel drehen.
„Es hört sich an wie Flugbetrieb." Wirklich? Ist das nicht der Wind, der über den Wald streicht? Der bei Naturgeräuschen ungeübte Städter konzentriert sich. Ein in kurzen Intervallen an- und abschwellendes Rauschen ist zu vernehmen, verbunden mit einem hellen Pfeifen, wenn die Rotorspitzen der Windräder ihre tiefsten Punkte erreichen. Ist das nun laut – verglichen mit dem Hintergrundsound einer Stadt?
Verkehrte Welt: Antje Berndt sitzt für die Grünen in der Gemeindevertretung von Plattenburg, unweit der Elbe. Sie plädiert für Klimaschutz, protestiert mit der örtlichen Bürgerinitiative trotzdem gegen die fünf geplanten Windanlagen, die den schon bestehenden Windpark erweitern sollen. „Da kommen fünf Fernsehtürme hin", sagt Berndt. Sie meint: Die neuen Kraftwerke werden etwa 200 Meter hoch – das ist ungefähr die Höhe der Café-Kugel des Fernsehturms am Alexanderplatz in Berlin.
Der Konflikt, der sich hier zuträgt, findet augenblicklich an vielen Orten Deutschlands statt. Neue Windparks werden geplant, weil mehr erneuerbarer Strom für den Klimaschutz gebraucht wird. Gleichzeitig hat sich eine Protestwelle aufgeschaukelt. Viele Windanlagen werden vor Gerichten beklagt, nur 86 wurden im ersten Halbjahr 2019 gebaut. Und die Bundesregierung, vor allem die Union, gibt nach. Ökokraftwerke sollen künftig mindestens 1.000 Meter von Siedlungen entfernt stehen, heißt es im Klimapaket der Bundesregierung.
Tierärztin Berndt betreut auch die Tiere von Karsten Krüger. Er und sie duzen sich. Vier Kilometer von der Hügelkuppe entfernt steigt nun Krüger, hellbraune Lederschuhe, Jeans, aus seinem Renault Pick-up und geht ein paar schnelle Schritte zum Rand des Feldes. Hinter ihm der Kiefernwald, vor ihm viel Platz. Aus der Erde kämpfen sich die Pflänzchen des Winterweizens ans Licht. In der Ferne äsen Rehe.
Bauer Krüger ist für, die Grüne gegen Windkraft
Hier sollen sie hin, die fünf neuen Rotoren. Der Windpark würde nach Süden erweitert. Ein Teil der freien Flächen gehört Krüger. Als Geschäftsführer und größter Anteilseigner der Agrargenossenschaft ist er Herr über 1.100 Hektar Land, 600 Rinder und 5.000 Gänse. „Bisher profitieren nicht wir, sondern andere." Nun soll auch Plattenburg etwas abbekommen. „Wir wollen nicht Neese sein." Auf Hochdeutsch: in die Röhre gucken.
Wir – das sind 25 Landbesitzer, darunter die evangelische Kirche. Der Pfarrer findet die Idee super. Ein Windrad soll bis zu 50.000 Euro Bodenpacht pro Jahr bringen, mal fünf sind 250.000 Euro jährliche Zusatzeinnahmen.
Berndt hat sich in den vergangenen Jahren in Vogelkunde eingearbeitet. Auf der Autotour um das Erweiterungsgebiet hält sie neben einem Straßenbaum. Aufgescheucht hebt aus der Krone ein Greifvogel ab und schwebt übers Feld. „Ein Mäusebussard." Berndt, rötliche Haare, randlose Brille, dicker Pullover, deutet nach rechts. Hinter dem jetzt grauen, blätterlosen Wald, brüten manchmal Kraniche. „Ihre Nester liegen erhöht im Wasser, damit die Füchse nicht rankommen." Seeadler würden hier ebenfalls durchziehen.
Und auch Rotmilane gibt es. Acht bis zehn Jungvögel habe sie zuletzt beim Trainieren beobachtet. Tolle Sache, schön anzusehen. Berndt hat jetzt eine Karte in der Hand, das
Gutachten des Ornithologen, den die Initiative beauftragt und bezahlt hat. „Dort ist es", sagt die Tierärztin und markiert mit ausgestrecktem Arm ein Stück nebeliger Landschaft etwa anderthalb Kilometer westlich der Straße. Wo das Rotmilan-Nest genau liegt, will sie nicht verraten, die Besucher hinführen schon gar nicht. Sie hat Angst, dass jemand den Horst zerstört. Denn für Windanlagen-Gegner können Rotmilane der Sechser im Lotto sein. Die Weltnaturschutzunion hat die Art auf ihrer roten Liste als „potenziell gefährdet" eingestuft.
Neue Windräder – ja oder nein? Darüber entscheidet wesentlich die Regionalplanung in der 70 Kilometer entfernten Kleinstadt Neuruppin. Die Behörde ist quasi eingeklemmt zwischen Tierärztin Berndt und Großbauer Krüger. Ihr Problem lässt sich so beschreiben: Die Initiative will null neue Rotoren. Das Land Brandenburg dagegen hat beschlossen, die Windleistung von derzeit etwa 6.000 auf über 10.000 Megawatt zu erhöhen. Bis 2030. Energiewende. Ohne zusätzliche Räder funktioniert die nicht.
Über den Milan sagen die Planer, der Horst liege weit genug von den geplanten Rotoren entfernt. Trotzdem ist die Genehmigung von Windrädern in der Prignitz augenblicklich grundsätzlich schwierig. Der bestehende Windpark plus Erweiterung steht zwar im Regionalplan von 2018. Diesen hat die ehemalige rot-rote Landesregierung jedoch nicht genehmigt. Es kommt eine Art Moratorium hinzu, das neue Windräder bis August 2021 in vielen Fällen ausschließt – eine Reaktion unter anderem auf den zunehmenden Protest. Und sollten Union und SPD auf Bundesebene beschließen, dass Rotoren grundsätzlich mindestens 1.000 Meter von kleinen Siedlungen entfernt stehen müssen, hätten sich die fünf neuen Anlagen in Plattenburg vermutlich erledigt.
Aus der Stadtperspektive betrachtet, bietet die Prignitz nichts als Natur. Mit 36 Einwohnern pro Quadratkilometer ist der Landkreis der am dünnsten besiedelte in Deutschland. Auf manchen Landstraßen wird das preußische Kopfsteinpflaster vom dünnen Asphalt nur notdürftig überdeckt. Straßenschilder raten zum Besuch historischer Ortskerne, die seit 200 Jahren kaum gewachsen sind.
„Unkrautzuchtverein" gegen Alteingesessene
Es ist einsam hier. „Für mich könnte es noch einsamer sein", sagt Berndt. Vor 20 Jahren ist sie aus Zepernick am nördlichen Stadtrand Berlins hergezogen. Bei einigen anderen Mitgliedern der Initiative ist es ähnlich. Sie haben auf dem Land Häuser gekauft, den Lebensmittelpunkt aber in der Hauptstadt. Dort gehen ihre Kinder zur Schule, die am Wochenende und in den Ferien hier über die Wiesen tollen. An der Prignitz schätzen die Städter die Abwesenheit von Lärm, Hektik, Industrie und Verkehr.
Die Stadteltern begrüßen es, wenn die Natur möglichst natürlich ist und das Gras hoch. Bauer Krüger ist dann eher nach Mähen zumute. Gern streitet man sich über die Entwicklungsrichtung, die die Gegend nehmen soll. Die Leute von der Bürgerinitiative schlugen mal vor, die Breite einer Landstraße zu verringern, um Pflanzen und Tieren mehr Raum zu geben. Einer, der von hier kommt, fragte sie da: „Willst Du meine Stoßdämpfer bezahlen?" Oder die Biber: Berndt freute sich, als die Tiere mit einem neuen Damm den Bach stauten und eine Überschwemmung verursachten. Die Einheimischen ärgerten sich, weil die Entwässerung des Dorfes gefährdet war.
Und manchmal knallt es. Bei einer Einwohnerversammlung wurden die Zugezogenen als „Unkrautzuchtverein" bezeichnet. Berndt fand das unverschämt. Da schwang das Gefühl mit, selbst nach zwei Jahrzehnten in Plattenburg nicht akzeptiert zu werden. Andererseits gibt sie sich Mühe, ihre Arbeit als Tierärztin für die Agrargenossenschaft aus dem Konflikt um die Windräder herauszuhalten. „Wir leben in einem Dorf zusammen." Und sie räumt sogar ein, vielleicht ähnlich zu handeln wie Krüger, wäre sie selbst die Chefin der Genossenschaft.
Karsten Krüger ist 55 Jahre alt. Hinten ist sein Haupthaar noch schwarz, vorne schon grau. Er kennt alle in Bendelin, seinem Heimatdorf, einem Teil von Plattenburg, „auch die, die schon unter der Erde sind". Als Lehrling trat er in die LPG ein, studierte zu DDR-Zeiten Pflanzenproduktion, erhielt nach dem Fall der Mauer das Familienland zurück, pachtete immer mehr dazu und übernahm schließlich mit einigen Bauern den ehemaligen Staatsbetrieb. Jetzt ist er Chef von 20 Mitarbeitern, einem halben Dutzend gigantischer Traktoren, Bürgermeister des Dorfes, als Parteiloser für die FDP im Kreistag, im Regionalparlament und eine der einflussreichsten Personen der Gegend.
Um Krügers fußballplatzgroßen Hof stehen Hallen mit Rolltoren für die Maschinen und ein einstöckiges Verwaltungsgebäude aus Ziegeln. „If you never try you will never know" – „Wenn Du es nicht probierst, erfährst Du es nicht", hängt als Spruch in der Küche, wo Krüger nun Kaffee und Tee zubereitet. Die Wände seines Büros nebenan zeigen Fotos von posierenden Arbeitern auf historischen Mähdreschern und Pferdefuhrwerken. Krüger betont, dass es ihm nicht nur um seinen Betrieb geht. Natürlich kann er die Einnahmen aus der Windpacht gut gebrauchen. Aber er weist auf die positive Wirkung für das Dorf hin: Er sichert die Arbeitsplätze, stellt Leute ab für die freiwillige Feuerwehr, räumt die Dorfstraßen im Winter.
Als Ortsvorsteher von Bendelin habe er im ganzen Jahr 1.250 Euro zur Verfügung. „Wenn ich davon die Rentner-Weihnachtsfeier bezahle, ist für das Erntefest kaum noch was übrig." Also haben er und die anderen Landbesitzer beschlossen, 20 Prozent der künftigen Windpacht an die vier umliegenden Dörfer weiterzureichen. Bendelin würde 10.000 Euro zusätzlich erhalten. Außerdem bietet man allen Haushalten einen Zuschuss zu ihren Stromkosten in der Größenordnung von 80 Euro jährlich an. Krüger will das als Gemeinsinn verstanden wissen. Andererseits ist es auch ein Versuch, Einwohner Plattenburgs auf seine Seite zu ziehen und die Bürgerinitiative zu schwächen.
Andreas Palmer ist derjenige aus der Bügerinitiative, der am nächsten dran wohnt. 700 Meter steht sein Haus im Dorf Söllenthin, ebenfalls ein Teil Plattenburgs, vom nächsten Windrad entfernt. Freitagabend, 17 Uhr, stockdunkel draußen, von verstreuten Straßenlaternen abgesehen. Gerade ist Palmer, ein 56-jähriger Physiker, aus Berlin eingetroffen. Wochenende. Der Hausflur ist kalt. Im Esszimmer verbreitet der grüne, mannshohe Kachelofen aber schon angenehme Wärme. Jochen Geppert, Organisationsberater aus Berlin, der im Nachbardorf Zichtow ein Haus besitzt, ist ebenfalls da.
Am Holztisch greift Palmer nach Blatt und Bleistift, um aufzuzeichnen, wie sich der Schall von Windrädern ausbreitet. Je höher sie sind, desto weiter reichten die Geräusche. Und die Anlagen würden immer größer. „Der Lärmschutzgrenzwert im Bundesimmissionsschutzgesetz von 45 Dezibel wird hier schon überschritten." Palmer hat das gemessen. Das zuständige Landesamt für Umwelt hat 2014 eine eigene Messung veranstaltet. Ergebnis damals: keine Überschreitung.
Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung
Palmer und Geppert verzweifeln allmählich an den Institutionen. Sie glauben, genug Argumente auf ihrer Seite zu haben. Trotzdem nehme man sie nicht ernst. Beispielsweise verstieße die Regionalplanung gegen das eindeutige Kriterium, dass Dörfer nicht zu mehr als 180 Grad von Windrädern umgeben sein dürften. „Durch die neu ausgewiesene Fläche wären es 191 Grad", so Palmer. Um das zu belegen, hat die Initiative in einer öffentlichen Aktion den Ortsmittelpunkt von Söllenthin bestimmt. Die Regionalplanung in Neuruppin erklärt, sie verwende andere Daten, weshalb die 191 Grad nicht zuträfen.
Immerhin haben die Landbesitzer angeboten, einen Teil ihres Gewinns abzugeben. Kann das nicht ein Weg zum Kompromiss sein? Palmer und Geppert schauen sich an. Den kleinen Stromkostenzuschuss halten sie für einen Witz. Aber die 10.000 Euro jährlich für ihr Dorf? „Das wäre ein Schmerzensgeld", sagt Geppert. Euros sind für ihn durchaus Argumente. Fragt man Karsten Krüger, ob er auch 30 statt 20 Prozent seiner Pachteinnahmen verteilen würde, sagt er: „Wir können über alles reden."
Vielleicht wäre dies ein Ansatz, um das Problem in Plattenburg zu lösen. Und nicht nur dieses. Laut Klimapaket der Bundesregierung sollen Kommunen am Betrieb der Windanlagen, die bei ihnen stehen, künftig finanziell beteiligt werden. Details fehlen noch. In Brandenburg beschloss der alte Landtag, dass Gemeinden 10.000 Euro pro Jahr für neue Rotoren erhalten, die ab 2020 entstehen.
Der zweite wichtige Punkt: die Mitbestimmung. Geppert schlägt vor, alle Einwohner der vier betroffenen Dörfer sollten nach einem eingehenden Diskussionsprozess über die Erweiterung des Windparks beschließen dürfen. Eine qualifizierte Mehrheit würde entscheiden. Heute sind Plebiszite auf Gemeindeebene in Brandenburg zwar möglich, aber nicht, wenn es um die Ausweisung von Windeignungsflächen geht. Mehr Partizipation aber wäre ebenfalls eine Idee, um die Konflikte auch bundesweit zu befrieden.
Nun könnte man annehmen, dass Antje Berndt, Andreas Palmer, Jochen Geppert und ihre Initiative die tollen Vorschläge zu finanzieller Beteiligung und Basisdemokratie nur entwickeln, um die Latte immer höher zu legen und die neuen Windräder schlicht zu verhindern – egal, was man ihnen anbietet. Ein Modell, das – auf ganz Deutschland übertragen – die Energiewende stoppen könnte.
Den Ruf „hier nicht" ist nachvollziehbar. An sehr vielen Orten müsste es jedoch, um den Klimawandel zu begrenzen, heißen „ja, hier gerne". Berndt, Palmer und Geppert streiten diesen Widerspruch nicht ab. Gepperts Tochter nimmt an den Fridays-for-Future-Demonstrationen teil, er selbst bezieht Ökostrom. Woher soll der kommen, wenn nicht aus Windkraftanlagen vor seiner Haustür? Oder vor anderen Haustüren?
Geppert versucht das Dilemma so zu lösen: „Wir sagen nicht: ‚Bei uns nicht!‘ Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten und auch Belastungen in Kauf zu nehmen. Hier stehen schließlich schon 34 Windräder. Wir stellen nur die Frage: Warum soll ausgerechnet bei uns die Belastung weiter erhöht werden, wo sie bereits das Zumutbare überschreitet?"
Wenn Andreas Palmer im Garten hinter seinem Haus in Söllenthin sitzt, fragen ihn seine Gäste manchmal: „Ist das die Autobahn, die man jetzt hört?" – „Nein", sagt Palmer dann, „das sind die Windräder." Manchmal schlafe er auch schlecht. „Es hört sich an, als wenn die Wände des Schlafzimmers brummen. Es hat etwas Beklemmendes."