Das Durmitorgebirge in Montenegro ist ein echter Geheimtipp für Schneefans und Wintersportler. 2.000 Meter hohe Berggipfel bieten beste Kulisse für ausgedehnte Schneeschuhwanderungen.
Im Januar hat sie Vollzeit gearbeitet und Flocken wie im Akkord produziert. Frau Holle ist im Winter in Montenegro besonders aktiv. Nun wühlt sich eine Gruppe Schneeschuhwanderer durch ihr weißes Werk. Bei jedem Schritt knurpst es: Ein tiefes, dunkles, Knirschen – gedämpft, als würde die Schöpferin der weißen Pracht den Ton heimlich mit einem Tuch abdecken, damit er die Bären im Winterschlaf nicht erschrecke. Es geht durch den Tiefschnee vorbei an Tannen, die weiße Mäntel tragen. Hin und wieder befreit sich ein Ast von seiner Winterkleidung und stößt mit einem Tusch die schweren Eiskristalle von sich. Je höher man steigt, desto mehr lichtet sich der Wald – bis plötzlich das imposante Durmitorgebirge vor der Nase aufragt. Ein Panorama, dass man so in Montenegro nicht vermutet hat: Eine Steilwand, die Kletterherzen höher schlagen lässt und ein Gebirge mit 22 Gipfeln, die höher als 2.000 Meter sind. Darunter Eisfelder, die das ganze Jahr über nicht schmelzen.
„Wenn Gott jemals einen Berg erschaffen hat, muss es das Durmitorgebirge sein", sagt Zoran Pavićević. Dabei leuchten seine Augen aus den Tälern seines wettergegerbten Gesichts. Der Montenegriner ist einer der Wetterfrösche aus dem Wintersportort Zabljak, dem auf 1.450 Meter höchstgelegenen Ort in Montenegro. Von einem Hügel mitten im Dorf melden er und seine Kollegen die Wetterveränderungen an die Hauptstadt Podgorica für die Nachrichten. Vor ihrer Tür stehen weiß gestrichene Holzkästen, die an Bienenhäuser erinnern. Darin verbergen sich die Messgeräte, die überall auf der Welt die gleichen sind. Jede Stunde werden 24 Daten wie Temperatur, Luftdruck, Windgeschwindigkeit, Feuchtigkeit, Wolkenbewegung gemessen. An diesem Tag muss Zoran die Ergebnisse per Telefon durchgeben, da der Computer ausgefallen ist. Dabei lassen 38 Jahre Berufserfahrung die meteorologischen Fachausdrücke nur so aus seinem Mund purzeln. Eine langweilige Arbeit? „Nein, nie" protestiert er. „Wenn man einmal tiefer ins Wetter eingestiegen ist, ist es faszinierend." Besonders die Wolkenbildung begeistert ihn. Er kramt ein Buch hervor und blättert zu seiner Lieblingswolke, die aussieht wie ein dramatisch aufgetürmter Blumenkohl. Sie bringt im Winter reichlich Schnee, besonders wenn sich zuvor kaltes Festlandsklima mit feucht-warmer Adrialuft mischt. Oft türmt er sich drei Meter hoch und bleibt ein halbes Jahr liegen.
Ein Gebirge mit 22 Gipfeln
Nur ein paar Autominuten von Zabljak entfernt liegt das bei Einheimischen beliebteste Skigebiet Savin Kuk. Kein Skizirkus, wie man ihn aus den Alpen kennt, aber immerhin bringen zwei Sessellifte die Skifahrer auf 2.200 Meter Höhe wo anfangs ein steiles Stück hinab auf die weniger schweren Pisten führt.
Für Schneeschuhwanderer ist Montenegro ein weißes Paradies mit unendlichen Möglichkeiten. „Schneeschuhe kennt man hier schon seit der ersten Besiedlung. Anfangs bastelte man sie selbst aus Holz und fertigte Riemen aus Rindsleder. Man wäre sonst im Winter gar nicht vom Fleck gekommen", sagt Zoran.
Einige Gehminuten hinter dem Ort beginnt der Nationalpark Durmitor, der mit 39.000 Hektar etwa eineinhalb mal so groß ist wie der Nationalpark Bayerischer Wald und der zweitgrößte von sechs Nationalparks in Montenegro. Den Namen hat er von einer römischen Karawane, die einst durch die Berge zog und hier übernachtete (dormir = schlafen). In den Bergen und tiefen Taleinschnitten hat sich über Jahrhunderte eine von Menschen unberührte Wildnis entwickelt mit mehr als 1.500 Pflanzen- und 130 Vogelarten. In den Wäldern leben Bären, Luchse und Wölfe. Als Schmuckstücke dekorieren 18 Gletscherseen die Landschaft – die sogenannten Waldaugen. Diesem Spitznamen werden sie im Winter – zugefroren und schneebedeckt – nicht ganz gerecht. Zumindest fehlen die Pupillen. Doch die Tannen umfransen sie weiterhin wie schwarze Wimpern.
Ein Kontrast dazu ist die Tara. Der Fluss schlängelt sich wie eine grüne Mamba auf 156 Kilometer durchs Land. Die Einheimischen nennen ihn lieber „Träne Europas". Die nächste Schneeschuhwanderung führt durch die Wildnis des Durmitorgebirges zu einer Felskante, an der man von oben auf den Fluss schaut – in die zweittiefste Schlucht der Welt. Nur der Grand Canyon weist einen größeren Höhenunterschied auf. Hier haben die Berghänge ihr Winterkleid schon abgelegt. „Hört Ihr die Tara rauschen?", fragt Guide Nikola. Und für einen Moment hält man den Atem an und lauscht dem wirbelnden Wasser 1.300 Meter tiefer.
Ein riesiger Nationalpark
Tatsächlich hört man das Wasser und auch den Wind, der in den umliegenden Nadelwäldern herumfuhrwerkt. Ganz am Horizont sind schon ein paar Gipfel des Nachbarstaates Bosnien-Herzegowina zu sehen. Von der Aussicht beschwingt, geht es wieder bergab durch den Tiefschnee. An den Bäumen hängen lange Bartflechten, ein Zeichen für sehr saubere Luft.
Zurück im Ort führt ein Abstecher zum ehemaligen Landwirt Dragan. Der 60-jährige hat noch fünf Kühe, ein paar Ziegen und ein Schaf und stellt Joghurt, Rahm und Käse selbst her. Der Tisch ist gedeckt mit den Hof-Leckereien. Obendrein gibt es Schinken, Blätterteigrollen und Pflaumenschnaps. An der Wand hängen Fotos von Dragans Vater, einem früheren Offizier des Tito-Regimes. Nach dem Essen greift Dragans Bruder auf Wunsch der Besucher zur Gusle, einer einsaitige Gitarre, die ihren Platz hinter dem Fernseher scheinbar nicht oft verlässt. „Damit haben sich früher die Soldaten abends die Zeit vertrieben", erzählt Dragan. Mit Melancholie in den Augen lauscht er den Tönen. Dann kramt er ein anderes altes Musikinstrument hervor, eine Art Doppel-Blockflöte und spielt ebenfalls etwas vor.
Hof-Leckereien beim Landwirt
Draußen hat die Abendsonne die Häuser in warmes Orange getaucht. Aber irgendwann werden sich wieder Zorans Lieblingswolken am Himmel türmen, die neuen Schnee verheißen. Dabei fallen einem die letzten Worte ein, die der Wettermann und Sommerliebhaber verkündete: „Wenn Gott jemanden bestrafen will, dann lädt er ihn im Winter nach Zabljak ein." Schneeschuhwanderer sehen das natürlich ganz anders. Sie blicken dann eher aufgeregt in den Himmel und freuen sich über Frau Holles erneuten Einsatz.