Noch vor wenigen Jahren waren Dirigentinnen bei großen klassischen Orchestern selten. Doch mittlerweile behaupten sich immer mehr Frauen am Pult – ein Beispiel ist Karina Cannellakis, die zuletzt in Berlin das Rundfunk-Sinfonieorchester dirigiert hat.
Frau Canellakis, Sie sind keine Amerikanerin in Paris, waren aber kürzlich eine in New York geborene Amerikanerin in Berlin, genauer gesagt im Oktober und Ende Dezember. New York City ist viel größer als Berlin. Gibt es dennoch Ähnlichkeiten in der Mentalität?
New York City und Berlin – das sind sehr unterschiedliche Welten, obwohl sie den Geist der Vielfalt, der Toleranz und der künstlerischen Freiheit teilen und in beiden Städten viele Menschen leben, die aus allen Regionen dieser Welt stammen. Ich bin in Manhattan aufgewachsen. Ich glaube, dass ich mich immer am wohlsten an Orten fühle, an denen Menschen aus der ganzen Welt leben und ich Teile verschiedenster Sprachen um mich herum höre. Ich schätze an solchen Städten, dass ich leicht anonym sein und problemlos japanisch, koreanisch oder mexikanisch essen gehen kann.
Als ich vor 15 Jahren in der Akademie der Berliner Philharmoniker spielte, lebte ich zwei Jahre lang in Berlin und fand es wunderbar, wie ruhig und gelassen Berlin im Vergleich zu New York City ist. Ich liebte es auch, überallhin mit dem Fahrrad zu fahren. In New York ist es sehr gefährlich, mit dem Fahrrad zu fahren, obwohl es viele Bemühungen gibt, das zu verbessern. In Berlin konnte ich – mit meiner Geige auf dem Rücken – bei Regen oder Sonnenschein mit Höchstgeschwindigkeit auf dem Rad unterwegs sein. Das war aufregend. Vielleicht leiht mir jemand ein Fahrrad für unsere Proben- und Konzertphase im April …
Sie haben europäische Wurzeln. Fühlen Sie sich in Europa generell heimisch?
Mein Vater ist halb russisch-jüdisch und halb griechisch-orthodox – das klingt wie der Anfang eines Witzes! Er wurde in China geboren und lebte in Australien und Paris, bevor er schließlich mit 19 Jahren in New York ankam, wo er meine amerikanische Mutter kennenlernte. Sagen wir also, ich habe eher international gemischte Wurzeln. Mein Vater sprach immer Russisch mit meiner Großmutter und spricht auch Französisch. Seit frühester Jugend habe ich Französisch in der Schule gelernt, dann in Berlin gelebt und Deutsch gelernt. Später habe ich einige Zeit in Italien verbracht und lernte Italienisch. Um sich in Europa zu Hause zu fühlen, hilft es enorm, diese drei Sprachen zu sprechen.
Nun verdoppeln Sie ihre Aktivitäten in Europa. Seit der Saison 2019/20 sind Sie Chefdirigentin des Niederländischen Radiophilharmonieorchesters. Wie viele Konzerte dirigieren Sie dort? Und wo leben Sie jetzt?
Mein Mann und ich sind im Juni 2019 nach Amsterdam gezogen. Ich dirigiere zehn Wochen pro Saison die Niederländische Radiophilharmonie als Chefdirigentin. Wir geben Konzerte sowohl im Concertgebouw als auch im Utrechter Tivoli Vredenburg, jede Saison außerdem eine konzertante Oper im Concertgebouw – so werde ich beispielsweise einen Janacek-Zyklus machen, der 2021 mit „Jenufa" beginnt. Ich verehre das Orchester, und so war der Umzug nach Amsterdam der nächste logische Schritt, um das Reisen zu minimieren. Aber auch um das Gefühl zu bekommen, an einem Ort etwas stärker verwurzelt zu sein. Es ist eine sehr kunstinteressierte und entspannte Stadt – obwohl es zu viele Touristen gibt. Wir haben Fahrräder, wohnen in der Nähe des Parks, und wenn ich im Concertgebouw dirigiere, kann ich zu Fuß zur Arbeit gehen. Es ist ein Traum. Ich wünschte nur, ich wäre öfter dort. Im Moment bin ich etwa 40 Wochen im Jahr unterwegs, meist zwischen Nordamerika und Europa.
Sie haben also den Vergleich – ist es einfacher als Dirigentin in den USA anerkannt zu werden und dort eine Karriere zu starten als in Europa oder besonders in Deutschland?
Ich glaube nicht, dass man allgemein von europäischen oder amerikanischen Orchestern sprechen kann. Denn jedes Orchester ist anders, hat seine spezifischen Stärken, Schwächen und seine Atmosphäre.
Das Niveau des Spielens ist heutzutage so unglaublich hoch, dass Absolventen, die aus den Konservatorien in den USA, Europa, Asien und Australien kommen, wirklich flexibel sein und überall vorspielen müssen, denn es gibt mehr Talente als Jobs. Zum Beispiel habe ich letztes Jahr in Perth in Westaustralien dirigiert und mit dem Western Australia Symphony Orchestra Schostakowitschs 8. Sinfonie geleitet. Es ist der weit entfernteste Ort, an dem ich jemals war, und doch habe ich beim Musizieren vergessen, wo ich war. Wir hätten auch in London oder New York sein können, weil das Orchester so international ist und aus so vielen anspruchsvollen und fantastischen Musikern besteht.
Als Frau musste ich nie darum kämpfen, in der Musikwelt als Dirigentin akzeptiert zu werden. Mein erstes europäisches Engagement war das Sprungbrett: Ich vertrat Nikolaus Harnoncourt bei Styriarte Graz. Eine sehr ungewöhnliche Situation, die danach zu vielen Einladungen in ganz Europa geführt hat, aus denen sich inzwischen einige ganz besondere, regelmäßige Beziehungen entwickelt haben. Ich würde nie etwas verallgemeinern, jede Situation ist einzigartig und hängt vom Dirigenten und dem Orchester ab und davon, was in der Woche musikalisch passiert.
Die Britin Julia Jones leitet zurzeit das Wuppertaler Sinfonieorchester, Joana Mallwitz ist Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, und Sie sind jetzt die erste Gastdirigentin des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB).
Es ist etwas überraschend und aufregend, die erste Frau zu sein, die etwas tut. Ich bin froh, dass das Timing stimmt und dass ich in einer Zeit lebe, in der Frauen nicht mehr so oft ausgebremst oder unterdrückt werden. Das gibt jeder Künstlerin die Chance, hart zu arbeiten, herzlich empfangen zu werden und ohne viel Unsinn wie in der Vergangenheit den verdienten Erfolg zu erzielen.
Berlin ist nicht neu für Sie. Bevor Sie Dirigentin wurden, waren Sie – wie bereits anfangs erwähnt – Violinistin und Mitglied der Akademie der Berliner Philharmoniker. Die Philharmonie kennen Sie also. Und es war Simon Rattle, der sie ermutigt hat, Dirigentin zu werden. Wie hat er Ihr Dirigier-Talent entdeckt?
Simon Rattle hörte mich die erste Violine in Schönbergs „Verklärte Nacht" in Berlin spielen und wusste, dass ich mich sehr für das Dirigieren und das Studium von Partituren interessierte. Er muss etwas in mir gesehen haben, das ihn davon überzeugte, das richtige Temperament und die richtige Persönlichkeit für das Dirigieren zu haben. Er schenkte mir das Vertrauen und ermutigte mich, das Dirigieren ernsthafter zu betreiben.
Als Sie noch bei einigen Orchestern Geige spielten – haben Sie da manchmal gedacht, dass Sie diesen oder jenen Teil anders dirigieren würden?
Niemals. Ich habe die jeweiligen Dirigenten nur ehrfürchtig beobachtet und studierte jede ihrer Bewegungen. Ich habe unter so vielen großen Dirigenten gespielt: Haitink, Boulez, Jansons, Thielemann, Ozawa, Welser-Möst, Rattle, Harnoncourt … wer war ich, ihre Interpretationen infrage zu stellen? Es war das Gegenteil … Sie gaben mir eine große Inspiration, und ich hörte mir alles, was sie sagten, genau an. Ich habe in diesen Jahren so viel gelernt, es war eine Ausbildung.
Am Jahresende waren Sie für die weithin bekannte „9. Sinfonie" von Ludwig van Beethoven verantwortlich. Die hat zu Silvester Tradition. Dass Vladimir Jurowski, Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, Ihnen diese Chance gegeben hat gleicht einem Ritterschlag und zeigt, dass er volles Vertrauen in Sie hatte. Waren Sie vorher ein bisschen nervös oder eher voller Vorfreude?
Ich war so aufgeregt und voller Freude über Beethovens „9. Sinfonie". Natürlich lässt dieses Stück jeden Dirigenten bescheiden werden. Es ist vielleicht das epischste, großartigste, wahrhaftigste und wichtigste Geniewerk unserer gesamten westlichen Kunstwelt.
Das Niederländische Radiophilharmonieorchester steht für kontrastreiche Sinfonie-Programme und Aufführungen von hoher Qualität. Das ist ja auch die Linie des RSB. Wird das auch auf Ihr nächstes Konzert am 5. April in Berlin zusammen mit der Geigerin Nicola Benedetti zutreffen? Es geht, wie zu lesen ist, um „Pionierarbeiten von Strawinsky, Szymanowski, Webern und Skrjabin".
Abenteuerliche Programme sind spannend, solange das Publikum Lust darauf hat, was in Amsterdam und Berlin definitiv der Fall ist. Unser Programm im April mit dem RSB ist wirklich mein Programm: eine schillernde, abwechslungsreiche Orchestrierung und kontrastreiche Klangwelten. Sie stellt den Dirigenten vor die Herausforderung, mit einem sehr großen Orchester Balance, Klarheit und Transparenz zu finden.