Viele Jahre war es fast ein Gesetz: Beim Rodeln gewinnt meist ein Deutscher, und der heißt fast immer Felix Loch. Doch die deutsche Dominanz bröckelt, vor allem Loch schwächelt.
In der Formel 1 ist eine Meinung nach wie vor weit verbreitet: Kinder machen die Fahrer langsamer. Warum? Die Piloten würden das letzte Risiko scheuen, so sagt man, vielleicht auch nicht mehr mit der maximalen Besessenheit für den Erfolg arbeiten. Felix Loch kann damit wenig anfangen. Deutschlands bester Rodler des vergangenen Jahrzehnts hat zwar seit der Geburt seiner Söhne Lorenz (3) und Ludwig (1) seine Dominanz eingebüßt, doch das liege nicht am Nachwuchs, versichert er. „Wenn ich mich da oben hinsetze und sage, ich habe zu Hause Frau und zwei Kinder, es könnte ja was passieren, dann bräuchte ich nicht fahren“, sagt Loch. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, verschwende er „keine Gedanken“ an etwas anderes, als mit der Bestzeit unten im Ziel anzukommen.
Doch das ist dem zweifachen Olympiasieger schon lange nicht mehr gelungen. In diesem Winter wartet Loch noch auf seinen ersten Sieg, beim jüngsten Weltcup in Oberhof belegte der 29-Jährige den fünften Platz. Noch düsterer sieht seine Bilanz auf ausländischen Bahnen aus: Hier hat Loch schon seit 26 Monaten nicht mehr gewonnen.
Kein Sieg für Loch in diesem Winter
Nun ist es aber so, dass die Weltmeisterschaften in diesem Jahr in Russland, genauer gesagt in Sotschi (14. bis 16. Februar), stattfinden. An den Eiskanal hat Loch beste Erinnerungen, schließlich holte er hier 2014 sein zweites Olympia-Gold. Doch damals hatten Loch und die anderen deutschen Starter noch das mit Abstand beste Material zur Verfügung. Die internationale Konkurrenz, allen voran die Österreicher, Russen und Italiener, hat diesbezüglich aber „ganz schön aufgeholt“, weiß Loch, „auf der einen oder anderen Bahn haben sie uns beim Schlitten-Setup sogar überholt.“
Neutrale Beobachter freut diese Entwicklung, schließlich waren vor ein paar Jahren schon kritische Stimmen aufgekommen, die deutschen Rennrodler würden die Sportart „totsiegen“. „Die anderen sind lange hinterhergefahren und hatten Zeit für Experimente“, sagte Loch der „Sport-Bild“. Außerdem seien viele deutsche Trainer und Techniker zu ausländischen Verbänden gegangen – und mit ihnen das Know-how. „Das ist ärgerlich und macht es für uns schwieriger“, sagt Loch.
Sein Mentor, der dreimalige Olympiasieger Georg Hackl, galt in der Szene jahrelang als das große Genie, was das Set-up von Schlitten und die Kufeneinstellung betrifft. Davon hatte Loch, der in Berchtesgaden eng mit „Hackl Schorsch“ zusammenarbeitet, immer wieder profitiert. Jetzt sind es die so erfolgsverwöhnten Deutschen, die Experimente wagen müssen. „Georg Hackl und ich tüfteln an den Schienen“, sagt Loch. Dabei gehe es „um den Schliff und die Biegung“. Schon für die Weltmeisterschaften sei er „zuversichtlich, dass wir näher ran- oder am Ende sogar vorbeikommen.“
Deutsche müssen Experimente wagen
Doch mit dem Material alleine ist Lochs Krise nicht zu erklären. Er zeigt im Eiskanal auch viel mehr Fehler, die ihm bei der jüngsten Europameisterschaft in Lillehammer nur den 14. Platz einbrachten. Kurz danach der Tiefpunkt: Rang 27 im lettischen Sigulda – so weit hinten war Loch noch nie im Weltcup gelandet. Die Bahnbedingungen waren aufgrund des Wetters schwierig, doch die Zahl 27 auf der Anzeigetafel war ein Schock.
Loch hat seine Souveränität auf dem Schlitten verloren, und auch physisch ist er den jüngeren Konkurrenten nicht mehr voraus. Wegen der Kinder falle ihm „die viele Reiserei schwerer“, gibt Loch dann doch zu, zudem will er nur noch so viel Zeit wie nötig im Kraftraum verbringen. „Das Athletiktraining dosiere ich“, sagt der Sachse, um sich dann „voll auf den Saisonhöhepunkt“ zu fokussieren. Diese riskante Taktik ging im Vorjahr auf. Auch vor der Heim-WM 2019 in Winterberg war der einstige Dominator knapp ein Jahr ohne Sieg geblieben – doch im WM-Rennen konnte ihm wieder keiner das Wasser reichen. Loch zog mit seinem sechsten WM-Sieg mit Rekordhalter Armin Zöggeler (Italien) gleich.
Doch dass nun erneut beim wichtigsten Wettbewerb der Saison plötzlich alles besser wird, glaubt nicht einmal der Bundestrainer. „Als erwartungsfrohe Rodelnation müssen wir demütig werden und kleinere Brötchen backen“, sagt Norbert Loch, der sich damit nicht nur auf seinen Sohn Felix bezieht. Bei den Männern konnte bislang lediglich Johannis Ludwig zwei Saisonsiege einfahren.
Auch die deutschen Rennrodlerinnen, die in den Vorjahren nicht selten alle Podestplätze unter sich ausgemacht hatten, haben ihren Nimbus der Unschlagbarkeit eingebüßt. Vizeweltmeisterin Julia Taubitz liegt in der Weltcup-Gesamtwertung knapp hinter Tatjana Iwanowa aus Russland, die in Sotschi aufgrund des Heimvorteils favorisiert an den Start geht.
„Ich bin selber noch nicht fehlerfrei“
Die 23-Jährige Taubitz ist bei den Frauen realistisch betrachtet Deutschlands einzige Hoffnung auf WM-Gold, da Olympiasiegerin Natalie Geisenberger und die Olympia-Zweite Dajana Eitberger eine Babypause einlegen und Rekordweltmeisterin Tatjana Hüfner ihre aktive Karriere beendet hat. „Es ist ungewohnt und irgendwie das Schlimmste, dass alle auf mich schauen“, gibt Taubitz ehrlich zu. Dieser Druck sei eigentlich noch zu groß für sie: „Ich bin selber noch nicht fehlerfrei.“
Die enorme Erwartungshaltung im deutschen Lager hat sogar zu einer WM-Absage geführt: Jessica Tiebel, die zum Saisonauftakt in Innsbruck auf Platz drei gefahren war, klagt über „Motivationsprobleme und Versagensängste“, wie Bundestrainer Loch berichtete. Deshalb habe man sich entschieden, die viermalige Junioren-Weltmeisterin nicht mit nach Sotschi zu nehmen, damit sie „Abstand vom Wettkampfgeschehen“ gewinnen könne. Ein früher Rücktritt der 21-jährigen Tiebel träfe den Bob- und Schlittenverband für Deutschland (BSD) hart. Zwar wollen in der kommenden Saison Geisenberger und Eitberger nach ihrer Babypause wieder voll angreifen, doch gerade beim Nachwuchs gibt es Probleme.
„Urteil noch nicht rechtskräftig“
„Die Breite von früher ist nicht mehr da“, sagt Felix Loch. Damit hätten zwar alle Wintersportarten zu kämpfen, aber im Rodelsport sehe er eine „ganz schöne Delle“, was die Qualität und Quantität der Nachwuchsathleten betrifft. „Noch habe ich keine Angst“, sagt Loch, „aber ich sehe den Trend, dass es weniger wird.“ Ein Fahrer, der vielleicht irgendwann mal in seine Fußstapfen treten könnte, sei Max Langenhahn, glaubt Loch: „Er hat das Potenzial, voll durchzustarten.“ Der Thüringer, der als Junioren-Weltmeister seine Klasse im Nachwuchs schon nachgewiesen hat, wurde auch ins WM-Team für Sotschi nominiert. Dass die Titelkämpfe ausgerechnet in Russland stattfinden, ist ein sportpolitischer Aufreger. Eigentlich darf Russland wegen der Dopingvergehen in der Vergangenheit vier Jahre keine sportlichen Großereignisse austragen. Doch die Rodel-WM ist davon nicht betroffen, weil die Umsetzung des Urteils der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada aus dem Dezember zeitlich nicht mehr möglich war. „Wenn Weltmeisterschaften bereits vergeben sind, und es aus rechtlichen oder praktischen Überlegungen heraus nicht möglich ist, diese Weltmeisterschaften so kurzfristig zu entziehen, dann können diese auch abgehalten werden“, erklärte Christoph Schweiger, der Exekutivdirektor des Weltrodelverbandes Fil. „Das wäre wohl auch juristisch schwierig geworden, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist“, ergänzte Loch. Er ist zumindest „froh“, dass die Dopingkontrollen in Sotschi nicht von der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada vorgenommen werden, sondern von einem unabhängigen Institut. „Ohne diese Lösung“, betont Loch, „hätte man sagen sollen: ‚Dann könnt ihr eure WM alleine machen!‘“