Phytopharmaka werden häufig als sanft und nebenwirkungsarm wahrgenommen. Der Fall Iberogast aber zeigt, das längst nicht alles, was aus der Natur kommt, auch harmlos ist.
Iberogast ist ein altbekanntes Magenmittel. Der Gesundheitsinformationsdienst IQVIA listet es unter den zehn am häufigsten verordneten rezeptfreien Medikamenten, und in vielen Haushalten dürfte der Griff zu dem Mittel bei Magen-Darm-Beschwerden an der Tagesordnung sein. Aber Iberogast ist nicht nur ein häufig eingenommenes und frei verkäufliches Pflanzenextrakt, sondern auch eines, das im Verdacht steht, die Leber zu schädigen.
Nachdem eine 56-jährige Patientin in der Leipziger Uniklinik an den Komplikationen einer Lebertransplantation verstarb, führten die Ärzte eine Reihe von Tests an dem Organ durch. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im „American Journal of Gastroenterology". Ihr Fazit: Die Schäden an der Leber wurden von dem pflanzlichen Magenmittel Iberogast verursacht. Das Pflanzenextrakt ist mittlerweile zum Fall für die Kölner Staatsanwaltschaft geworden, die einem Bericht des „Handelsblatts" zufolge wegen fahrlässiger Tötung gegen unbekannt ermittelt. Unklar ist dabei, ob die Ermittlungen durch die verstorbene Patientin der Uniklinik Leipzig ausgelöst worden sind. Denn tatsächlich gab es schon vorher Hinweise auf eine leberschädigende Wirkung von Iberogast. Laut „Handelsblatt" sind dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seit dem Jahr 2008 allein in Deutschland 57 Berichte mit 115 Verdachtsmeldungen zu Iberogast eingegangen.
Das Phytopharmakon enthält neben Extrakten von Schleifenblume, Angelikawurzel, Kümmelfrüchten, Kamillenblüten, Mariendistelfrüchten, Melissenblättern, Pfefferminzblättern und Süßholzwurzel auch Schöllkraut-Extrakt. Letzteres soll das Problem sein. Bereits durch geringe Dosen von in Schöllkraut enthaltenem Chelidonin seien in Einzelfällen schwere Leberschäden möglich. Deshalb widerrief das BfArM bereits 2008 die Zulassung für Arzneimittel mit einer Tagesdosis Chelidonin, die über 2,5 Milligramm hinausgeht. Ab einem Tausendstel davon, also 2,5 Mikrogramm, verlangte das BfArM, dass in Beipackzetteln vor möglichen Leberschäden gewarnt wird. Wie viel Chelidonin genau in Iberogast enthalten ist, wird in den Produktinformationen nicht aufgeführt. Bayer zufolge liegt die Tagesdosis bei rund 0,3 Milligramm, also deutlich über der verweisfreien Menge.
Der Pharmakonzern aber beharrte auf der Unbedenklichkeit seines Bestsellers. Iberogast soll laut Berichten des SWR allein 2018 für 120 Millionen Euro Umsatz bei Bayer gesorgt haben. Außerdem, so argumentiert man beim Pharmakonzern, sei das Mittel bereits seit 1961 auf dem Markt. 80 Millionen zufriedene Kunden sprächen für den Nutzen des Pflanzenextrakts. Da das Schöllkraut-Extrakt so niedrig dosiert sei, dass es keine Risiken mit sich bringe und Warnhinweise unbegründet seien, legte Bayer zunächst Widerspruch gegen die BfArM-Auflagen ein. Nachdem das Verfahren zehn Jahre lang stockte – und Bayer das Produkt in der Zwischenzeit weiterhin ohne die geforderten Warnhinweise verkaufen konnte – lenkte das Unternehmen 2018 ein und hat seither einen Zusatz im Beipackzettel aufgenommen: „Bei der Anwendung von Schöllkrauthaltigen Arzneimitteln sind Fälle von Leberschädigungen (…) bis hin zu arzneimittelbedingter Gelbsucht (…) sowie Fälle von Leberversagen aufgetreten."
Die Staatsanwaltschaft Köln hat nun ein Gutachten in Auftrag gegeben, um die Kausalität von Iberogast-Einnahme und Tod zu klären. Das Ermittlungsverfahren richtet sich bislang gegen unbekannt. Bei Bayer heißt es, Einzelheiten des Ermittlungsverfahrens seien dem Unternehmen nicht bekannt. Den aufgetretenen Todesfall habe man dort intensiv und umfassend analysiert. „Die Analyse zeigte, dass dies höchstwahrscheinlich eine idiosynkratische Reaktion war – eine äußerst seltene, dosisunabhängige Reaktion auf Substanzen, die in der Regel von Menschen sicher toleriert werden. Idiosynkratische Reaktionen sind substanzunabhängig und können generell nicht ausgeschlossen werden", so das Unternehmen. Das Nutzen-Risiko-Profil sei weiterhin positiv.
Unabhängig vom Ausgang zeigt der Fall aber schon jetzt, dass Inhaltsstoffe aus der Natur nicht harmlos sein müssen. Dabei suggeriert die Werbeindustrie immer wieder, dass, was aus der Natur kommt, gut verträglich und nebenwirkungsfrei sei. Und das ziemlich erfolgreich. Alleine 2018 setzten Pharmaunternehmen in Apotheken in Deutschland etwa 1,5 Milliarden Euro mit sogenannten Phytopharmaka um. Doch es gibt genügend Gegenbeispiele, die zeigen, dass Natürliches auch gefährlich sein kann. Fingerhut etwa produziert Substanzen, die den Herzrhythmus verändern. Alle Bestandteile der Pflanze sind hochgiftig. Auch Eibe, Tollkirsche, Maiglöckchen und Stechapfel sind alle giftig. Zahlreiche Pflanzen enthalten zudem Stoffe, die dafür sorgen sollen, dass Tiere und Menschen sie gar nicht erst zu sich nehmen.
Vermeintlich harmlose Phytopharmaka nur nach Absprache mit Arzt einnehmen
Selbst gängige Hausmittelchen wie etwa Kamille können Nebenwirkungen haben. Häufig eingesetzt als Tee oder auch als Dampfbad bei Erkältungen, sind Kamillenblüten in fast jedem Haushalt vorhanden. Wer allerdings zu lange und heiß mit Kamille inhaliert, trocknet die Schleimhäute aus und vor allem Allergiker können auf ein Kamillen-Dampfbad mit gereizten Augen oder einer verstopften Nase reagieren. Auch der Griff zu Johanniskraut, das gegen depressive Verstimmungen helfen soll, kann Konsequenzen haben. Hoch dosiertes Johanniskraut kann mit zahlreichen verschreibungspflichtigen Medikamenten eine Wechselwirkung haben. Meistens wird die Wirkung des Medikaments abgeschwächt. Das gilt beispielsweise für Herzglykoside (bei Insuffizienz), Gerinnungshemmer, Antidepressiva oder Antibabypillen. Außerdem erhöht Johanniskraut die Lichtempfindlichkeit, was dazu führt, dass Anwender schneller einen Sonnenbrand bekommen.
Die möglichen Nebenwirkungen von Phytopharmaka schließen allergische Reaktionen wie auf die angeführte Kamille, aber auch auf Pflanzen wie beispielsweise Anis, Hopfen, Knoblauch, Wachholder oder Zimt mit ein. Ebenso können Arzneimittel-Interaktionen wie bei Johanniskraut oder ungewollte pharmakologische Effekte möglich sein. Denn Pflanzen können durchaus den gewollten Effekt haben und gleichzeitig unerwünschte Nebenwirkungen anstoßen. Zum Beispiel besitzen Pflanzen wie Cimicifuga, Ginseng und Sägepalme östrogene Aktivität, die potenziell mit Nebenwirkungen assoziiert ist. Andere Pflanzen besitzen gerinnungshemmende Wirkungen. Dazu gehören Alfalfa, Angelika, Anis, Arnika, Asafötida, Ginkgo biloba, Kamille, Knoblauch und Mutterkraut. Die wohl schwerwiegendsten Nebenwirkungen sind toxischer Art. In den meisten Fällen betreffen sie die Leber. Belegt ist das unter anderem für Fenchelholz (beliebt bei Rheuma), Beinwell (als entzündungshemmendes Mittel verwendet) und Pennyroyal (gegen Verdauungsbeschwerden empfohlen).
Viele pflanzliche Arzneien enthalten Stoffe, die durch Trocknen oder durch das Herauslösen mit Alkohol direkt aus Pflanzen gewonnen werden. Wenn die Wirksamkeit für solche Pflanzenstoffe wissenschaftlich nachgewiesen ist, können sie genau wie chemisch hergestellte Wirkstoffe unerwünschte Nebenwirkungen entfalten.
Bei Arzneimitteln wie Iberogast kann die Liste der Nebenwirkungen sogar länger sein. Das hängt damit zusammen, dass Iberogast ähnlich wie viele pflanzliche Arzneimittel verschiedene Kräuter enthält, die in den Organismus eingreifen können. Dass Anwender bei pflanzlichen Arzneimitteln nicht so häufig Nebenwirkungen verzeichnen, kann auch mit der Dosis zusammenhängen. In einigen pflanzlichen Mitteln ist der enthaltene Wirkstoff so gering, dass zum Teil die Heilkraft angezweifelt wird.
Die Idee, dass Arzneimittel, die aus Pflanzen hergestellt werden, stofflich grundsätzlich etwas anderes seien als solche, die mit biochemischen Methoden hergestellt werden, ist also ein Irrtum. Viele Arzneimittel wurden aus Naturstoffen entwickelt oder sind Naturstoffen nachempfunden. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Aspirin. Der Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) ist dafür bekannt, Fieber zu senken. Zudem hindert er die Blutplättchen daran zu verkleben und wirkt gegen Entzündungen. Ursprünglich wird er aus Weidenrinde gewonnen, die schon seit Jahrhunderten als Mittel gegen Schmerz und Fieber gilt. Ende des 19. Jahrhunderts isolierten Chemiker und Pharmazeuten von Bayer dann den Wirkstoff. Sie veränderten ihn chemisch leicht, um ihn magenschonender zu machen und ihn zu konzentrieren. Damit haben sie sich die Natur zum Vorbild genommen, aber ein Produkt entwickelt, dass schonender und wirksamer war als zuvor. Auch Antibiotika haben häufig einen natürlichen Ursprung. Sie werden oft von Pilzen oder Bakterien produziert und selbst die synthetisch hergestellten Präparate basieren auf natürlichen Substanzen.
„Unter dem Begriff Phytopharmaka werden alle pharmazeutischen Präparate zusammengefasst, deren wirksame Bestandteile ausschließlich pflanzlicher Herkunft sind", erklärt es Prof. Dr. med. Bernd Mühlbauer: Er ist Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen Mitte und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Das Gremium soll die Bundesärztekammer in arzneipolitischen Fragen unabhängig und wissenschaftlich beraten. Mühlbauer und seine Kollegen empfehlen Iberogast nicht. Es gebe Mittel, wie beispielsweise gegen Krebs, bei denen man schwerwiegende Nebenwirkungen akzeptieren würde, weil sie hochwirksam seien. Bei Iberogast verhalte sich das jedoch anders. „Die Datenlage für die Wirksamkeit von Iberogast ist nicht überzeugend. Studien weisen zwar darauf hin, dass es bei funktioneller Dyspepsie, auch bekannt als Reizmagen, helfen kann. Allerdings ist der Placeboeffekt bei Untersuchungen mit Reizmagen-Patienten erfahrungsgemäß hoch. Bei dieser schwachen Evidenz sind schwere Leberschäden nicht zu akzeptieren, auch wenn sie nur sehr selten auftreten. Ich kann Iberogast deshalb nicht empfehlen", so Mühlbauer. Man müsse sich klarmachen, dass auch pflanzliche Stoffe eine Wirkung hätten, und die sei längst nicht immer gewollt. Er rät deshalb davon ab, ohne einen medizinischen Grund oder Absprache mit einem Arzt vermeintlich harmlose pflanzliche Medikamente einzunehmen. Das Beispiel Iberogast zeige, dass pflanzliche Bestandteile gefährlich sein können.