Brandenburger Tor, Gedächtniskirche oder Potsdamer Platz sind Sehenswürdigkeiten, die Touristen aus aller Welt täglich zu Tausenden abklappern. Sie stehen für das eine Berlin, das des von bekannten Bildern in Hunderten von Varianten. Es gibt aber auch ein anderes Berlin. Das, was diese Stadt in den Augen des Fotografen Michael Seidl ausmacht, ist das sprechende und gern übersehene Detail: Es ist das Berlin der Nebenstraßen, der vernachlässigten Baumscheiben, der Alleen, der Parks und der Friedhöfe. Der Blick geht mehr nach unten als nach oben, mehr auf das Kleine als in den Himmel über Berlin.
„Berlin ist laut, dreckig, schräg – und toll!" Das Zitat stammt von einer gewissen Elisabeth, einer Passantin, die Autor und Fotograf Seidl gebeten hat, etwas zu seinen Berlin-Fotografien zu sagen. Das Bild dazu zeigt einen jungen Mann auf dem Fensterbrett kniend, offensichtlich beim Zug an einer Zigarette. Jedes der 120 Fotos hat eine solche verbale Ergänzung: spontan, direkt, mal mehr durchdacht, mal weniger. Der Fotograf lässt es offen, die Stadtgesellschaft soll sprechen.
Der im Selbstverlag herausgebrachte quadratische Fotoband zeigt Berlin von der Straße aus. Es ist das Werk eines Flaneurs mit gutem Blick für die Details, die mehr als tausend Worte für diese Stadt sprechen. Der nasse Café-Stuhl, das Schaufenster, der Postkarten-Drehständer. Mal liegt die „Lebensfreude", mal die „Weltgeschichte" im Dreck der Straße. Auch die Schuhe auf dem Pflaster, mutmaßlich „zu verschenken", gehören natürlich dazu.
Berlin ist für Seidl bewusst nur ein bestimmter Teil der Stadt: Er war in Kreuzberg und Neukölln unterwegs, mit den alten Bürgersteigen, dem Kopfsteinpflaster, den Fassaden mit den Graffitis, den alten Fahrrädern. Das „offizielle" Berlin fehlt, wie auch der ganze Osten. Es hätte auch nicht gepasst.
Hier spricht Berlin – durch Bilder und Zitate. Ein schlicht-schönes Buch, ganz in existenzialistischem Schwarz, für Berlin-Begeisterte und auch für solche, die der Stadt schon fast überdrüssig geworden sind und es sich doch noch mal überlegen wollen.