In Europa werden wieder Grenzen streng kontrolliert. Dies soll die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen. Warenverkehr und Pendler sind ausgenommen, betont Innenminister Horst Seehofer. Die Frage nach der Solidarität bleibt offen.
Auf Twitter kursiert derzeit der Hashtag #flatthecurve („verflache die Kurve"). Gemeint ist, die exponentielle Infektionsrate des Coronavirus so einzudämmen, dass das Gesundheitssystem die erwartbar hohe Zahl von Krankheitsfällen nicht auf einmal verkraften muss. Weil das in Italien, das als erstes europäisches Land massiv vom Virus betroffen war, nicht gelungen ist, hat dies dort zu einer massiven Überlastung von Ärzten, Krankenhauspersonal, Angehörigen und Patienten geführt. Aus den Erfahrungen wollen die Länder, die es erst mit einer Zeitverzögerung trifft, lernen. Eine der Maßnahmen: In Europa werden die Grenzen dichtgemacht. Die Bundespolizei rückt mit Fieberthermometern aus. Auch an der saarländisch-französischen Grenze.
Die Großregion Saarland, Rheinland-Pfalz, Luxemburg, Teile Belgiens und die französische Region Grand Est ist die Region in der EU mit den höchsten Pendlerströmen und damit auch eine der europäischsten Regionen, die schon früh an alten Schlagbäumen gesägt hat. Dass das Abkommen über offene Grenzen im kleinen luxemburgischen Grenzort Schengen im Herzen der Region unterzeichnet wurde, ist kein Zufall.
Dass ausgerechnet dort jetzt wieder Kontrollen stattfinden und Grenzen – fast – dicht sind, ist für viele ein ungewohnt schmerzhaftes Erlebnis. Dass die Notmaßnahmen nicht an der traditionellen und tiefen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit kratzen sollen, zeigt das Saarland symbolisch. Gleichzeitig mit der Errichtung der Kontrollen hat das Land veranlasst, dass an öffentlichen Gebäuden neben der Saarländischen und europäischen Flagge auch die Flagge des Nachbarn gehisst wurde. Alle Maßnahmen seien eng mit den Nachbarn abgesprochen worden, betont Ministerpräsident Tobias Hans. Auch das unterstreicht die enge Zusammenarbeit und Vertrautheit.
Vorgehen an Grenzen wirkt unkoordiniert
Unternehmen haben, mit Unterstützung des Wirtschaftsministeriums, ihren pendelnden Mitarbeitern Bescheinigungen für freie Fahrt ausgestellt. Nicht nur große Unternehmen wie etwa ZF in Saarbrücken, auch Mittelständler und Handwerksbetriebe beschäftigen Mitarbeiter aus Lothringen. Die Bundespolizei ist bemüht, bei den großen Übergängen mit einer Mischung aus Fingerspitzengefühl und Konsequenz vorzugehen. Die vielen kleinen Grenzüberwege, Zeichen einer zusammengehörigen Region, sollen mit Sperren versehen werden.
In Luxemburg, das viele Arbeitskräfte aus Deutschland auch und besonders im Gesundheitswesen anzieht, wurde erwogen, Pendler vorübergehend in Hotels unterzubringen. „Wir brauchen die Grenzgänger", wurde die luxemburgische Gesundheitsministerin Lenert zitiert.
Luxemburg selbst hat ähnliche weitreichende Einschränkungen für das öffentliche Leben verordnet wie sie derzeit in Deutschland gelten. Alle „nicht wesentlichen Aktivitäten" (Sport, Kultur, Freizeit, Feste) sind ausgesetzt, ebenso unternehmerische Aktivitäten mit Publikumsverkehr. Geöffnet bleibt alles, was für den alltäglichen Lebensdarf notwendig ist.
Andere europäische Länder wie Österreich, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen, Dänemark oder Estland haben die Grenzen geschlossen – ohne Koordination. In den Grenzgebieten spielen sich Szenen ab, die seit dem Schengener Abkommen kaum mehr denkbar waren: Polizei, heruntergelassene Schlagbäume, verstärkte Kontrollen. Den Warenverkehr und Arbeitspendler betreffe dies jedoch nicht, versicherte Bundesinnenminister Horst Seehofer. Dabei gehört dies nicht zu den Maßnahmen, die die Weltgesundheitsorganisation WHO für angemessen hält. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält dies nicht für adäquat. „In den letzten Stunden haben wir gesehen, dass in einer Reihe von Mitgliedstaaten Reiseverbote und Kontrollen eingeführt wurden. Natürlich wollen wir alle unsere Bürger vor der Verbreitung des Virus schützen. Aber allgemeine Reiseverbote werden von der Weltgesundheitsorganisation nicht als die wirksamsten Mittel angesehen", so von der Leyen in ihrer Rede. Sie warb dafür, gemeinsam zu überlegen, wie der Pandemie zu begegnen sei.
Solidarität auf dem Prüfstand
So wird die Situation nicht nur ein Test der Leistungsfähigkeit von Gesundheitssystemen, sondern auch von Solidarität und Demokratien. Zum einen muss es schnell gehen mit den Maßnahmen zur „sozialen Distanzierung", wenn es darauf ankommt. Zum anderen wirkt vieles nach dem Motto, dass jeder für sich alleine kämpft. Das gilt übrigens selbst innerhalb Deutschlands, wenn Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) eine Million Atemmasken für Nordrhein-Westfalen ordert, aber erst einmal nicht verraten will, woher er sie bezieht. Der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza mahnte, man müsse in der EU zusammenarbeiten: „Wir dürfen uns zwischen europäischen Staaten keinen Krieg liefern, das würde nur die Preise für diese Gegenstände in die Höhe treiben." Auch EU-Krisenkommissar Janez Lenarcic sagte, Exportbeschränkungen seien zwar im Binnenmarkt in Ausnahmefällen möglich. Es wäre aber uneuropäisch, den eigenen Markt zu schließen. In der EU sei Solidarität gefordert. Die Schutzkleidung müsse in Europa dahin gelangen, wo sie besonders benötigt werde.
Jetzt, in der höchsten Not der Italiener, spendet Jack Ma, Gründer der Internetplattform Alibaba und chinesischer Selfmade-Milliardär, eine Million Atemmasken, während Deutschland und Frankreich die Ausfuhr medizinischer Ausrüstung beschränken. All das mag künftig Wasser auf die Mühlen europäischer Ultranationalisten sein, die die EU verteufeln. Tatsache aber ist, dass die vielbeschworene europäische Solidarität der Union in der Bekämpfung der Corona-Infektion derzeit viel Luft nach oben hat.
Dass die Europäer aber auch sehr entschieden zusammenhalten können, zeigt eindrucksvoll die Reaktion auf einen Vorstoß von US-Präsident Trump. Der soll massiv daran arbeiten, einen möglichen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 exklusiv für die USA zu sichern. Derzeit forscht das Tübinger Unternehmen Curevac offensichtlich mit einer guten Perspektive daran. Hauptanteilseigner Dietmar Hopp erteilte dem Trumpschen Ansinnen eine klare Abfuhr, unterstützt von Außenminister Heiko Maas. Und schließlich auch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, die Forschungsunterstützung von 80 Millionen Euro in Aussicht gestellt und im Gegensatz zu Trumps Exklusivambitionen erklärt hat: „Wir müssen so schnell wie möglich einen Impfstoff finden, der der ganzen Welt hilft."