Die Welt verschließt sich im Kampf gegen das Coronavirus. Urlaubsreisen fallen erst mal flach. Doch es wird irgendwann wieder eine Zeit des Reisens geben. Deshalb stellen wir weiterhin schöne, interessante und spannende Ziele vor, als Ausblick auf das Leben nach der Krise. Zum Beispiel die Eisenbahn im indischen Darjeeling ist Weltkulturerbe. Die Original-Loks fahren seit 135 Jahren den Berg hoch und runter und überwinden dabei 2.000 Höhenmeter.
Es riecht nach Kohle und Öl, und ein bisschen nach Lagerfeuer. Wie vor 135 Jahren.
Selbst die Geräusche sind die gleichen: das schrille Pfeifen der Signalhupe, das Quietschen der Bremsen, das sich zuweilen anhört wie vertonter Zahnschmerz. Durchs geöffnete Fenster fliegen ein paar Funken herein, die zum Glück ohne Ergebnis auf der Jeans verglühen. Währenddessen schraubt sich die Lok in Kurven den Berg hoch, vorbei an leuchtend grünen Teeplantagen und einem Sonnenuntergang der Superlative. An manchen Stellen kriecht das Bähnlein so mühsam, dass man sich fragt, ob man nicht lieber aussteigen und schieben helfen soll.
Jedes Jahr kommen Tausende Touristen, um eine Fahrt mit der Original-Lok des Toy Train, (der „Spielzeugbahn") in Darjeeling zu erleben. Die legendäre Schmalspur-Bergbahn wurde zwischen 1878 und 1881 von der britischen Kolonialregierung gebaut, um Kartoffeln schneller und günstiger von Siliguri nach Darjeeling zu transportieren. Auf der 88 Kilometer langen Strecke überwindet die Dampflok etwa 2.000 Höhenmeter. An den steilsten Abschnitten fährt sie in Schleifen und Spitzkehren. Dabei ächzt und schnauft sie wie ein unsportlicher Stubenhocker. Sechseinhalb Stunden braucht die Dampflok für die gesamte Strecke mit 13 Stationen, von denen manche lustige Spitznamen haben wie „Höllenqual" oder „Sensationsecke".
Dilip Singh arbeitet seit über 30 Jahren als Heizer bei der Darjeeling Himalayan Railway Company. Der Inder mit braunen Augen und Schnauzbart sorgt dafür, dass das Feuer nicht ausgeht, und tankt an vorgesehenen Stopps Wasser nach. Dabei unterhält er sich gern mal mit den Fahrgästen. Er liebt die Berge, die Landschaft. „Ich mag auch meinen Job sehr", sagt er. „Aber neulich war ich mal in der Schweiz. Das war für mich der Himmel auf Erden". Und das sagt einer, der immerhin den Himalaya vor der Haustür hat.
Ein beliebter Aussichtpunkt liegt in der Nähe des Hotels „Little Tibet". Schon morgens um halb sechs ist hier jede Menge los. Junge Leute joggen auf der Straße ohne erkennbare Anstrengung. Zwei Männer, vermutlich zwischen 80 und 100 Jahre alt, machen am Geländer Gymnastik, eine ebenso alte Frau meditiert auf der Parkbank, eine andere massiert sich die Ohrläppchen und übt sich anschließend in Tai Chi. Der Europäer steht einfach nur da, schaut zu und fragt sich, welche Drogen sie wohl nehmen. Keiner scheint sich beim Sport sehr anzustrengen. Vielleicht ist es der Blick in die höchsten Berge der Welt, der sie buchstäblich anturnt. Denn am Horizont taucht die Morgensonne den dritthöchsten Berg der Welt, den Kanchenjunga (8.586 Meter), gerade in ein zartrosafarbenes Märchenlicht.
Trekker aus aller Welt versuchen sich an den Steilwänden des Himalayas. Von Darjeeling aus startete auch Sardar Tenzing Norgay, einer der berühmtesten Bergsteiger, seine Expeditionen. 1953 erreichte der Sherpa mit seinem Gast Edmund Hillary als erster den Gipel des Mount Everest. Ihm ist ein Denkmal am Bergsteigermuseum gewidmet.
Toy Train fährt bis auf 2.257 Meter
Für den Toy Train ist die nächste Station Ghum mit 2.257 Metern der höchste Punkt. Höher kommt keine Bahn in Indien. Sie spuckt dort ihre Fahrgäste für eine kurze Pause vor schöner Hügellandschaft aus. Sie muss wohl frisch beatmet werden. Kurz darauf rollt sie zurück ins Zentrum. Die Zugreisenden haben sich wieder auf die engen Sitze gequetscht, eher gemacht für schmächtige Inder als für korpulente Europäer. Im Waggon stehen nun zwei junge Kerle, die rechtzeitig die Handbremse betätigen, wenn es bergab geht. Der Toy Train zuckelt nur wenige Zentimeter an den Häusern vorbei, an denen Stromkabel in Knäulen hängen, wie nicht zu bändigender Spaghettisalat. Knapp vorbei an den Zehen der Ladeninhaber, die auf Schemeln am Gleis sitzen und ihre Ware feilbieten. Beinahe könnte man den Arm ausstrecken, um eine der vielen angebotenen Chipstüten vom Verkaufsständer zu nehmen. Früher am Tag sind manchmal auch Gaukler zu sehen, die die Bahnfahrenden von draußen erheitern.
Mit dem Bau der Bahn blühte Darjeelings Wirtschaft auf. Man transportierte viel Holz und Tee. So wurde auch Darjeelings „First Flush" erschwinglich und schließlich aufgrund seiner Qualität weltberühmt. Die verdankt er den sonnigen Hängen auf über 2.000 Meter über dem Meeresspiegel. Hier pflücken Teearbeiterinnen die Blätter noch per Hand mit einem Bastkorb auf dem Rücken wie vor 100 Jahren. Aber Darjeeling ist deshalb nicht stehen geblieben. Im Gegenteil. An jeder Ecke gibt es eine Geldwechselstube. Im Zentrum reihen sich Restaurants und Modegeschäfte. Auf der Straße leuchten die Frauen in ihren grellfarbenen Saris wie ein Muster im Kaleidoskop. Die Verheirateten unter ihnen müssen sich – als Ersatz für den Ehering – jeden Morgen einen roten Strich am Haaransatz auf die Stirn malen.
Im District Darjeeling leben neben Westbengalen auch ethnische Minderheiten wie Lepchas und Ghurkas sowie viele Nepalesen und Tibeter. Nach der chinesischen Machtübernahme flohen viele Tibeter aus ihrer Heimat. In Darjeeling wurde 1959 ein Selbsthilfezentrum für Flüchtlinge eröffnet. Dort wohnen heute noch etwa 750 Menschen. Sie betreiben eine Krankenstation und ein Waisenheim und verkaufen selbst gemachtes Kunsthandwerk. Buddhist Richard Gere kommt hin und wieder zu Besuch. Im Verkaufsraum hängt ein Zeitungsartikel mit seinem Bild an der Wand.
Die gewebten Schals und Handschuhe, Gebetsteppiche, geschnitzte Holztruhen und vieles mehr exportieren die Tibeter in 36 Länder. Für den Gütertransport abwärts nehmen sie aber nicht den Toy Train. Auf der inzwischen asphaltierten „Card Road" geht es schneller. Nur die Post wird noch mit dem Zug befördert – in neueren Diesel-Loks, die ebenso schrill pfeifen können wie die Spielzeugbahn.