Nach sechs Wochen Kontaktbeschränkung wird die Kritik massiver. Klagen in allen Bundesländer nehmen zu. In Berlin zieht der FDP-Abgeordnete Marcel Luthe gegen den Senat wegen der Corona-Verordnung vor das Verfassungsgericht.
Herr Luthe, warum haben Sie so lange gebraucht für die Organklage gegen die Maßnahmen des Berliner Senats zur Eindämmung von Corona?
Ich stand seit Verkündung der ersten Maßnahmen des Berliner Senats im engen Kontakt mit den zuständigen Staatssekretären und habe meine Bedenken mitgeteilt. Die Verordnung wurde zwar geändert, meine Bedenken aber nicht berücksichtigt. Nach der letzten Änderung habe ich dann die Klage vorbereitet.
Was ist eine Organklage und kann man damit den Regierenden Bürgermeister von Berlin zwingen, die Maßnahmen aufzuheben?
Eine Organklage ist die Klage, die ein einzelner Abgeordneter erheben kann, wenn er einen Eingriff in seine eigenen Rechte durch die Regierung behauptet. Was die Aussichten auf den Erfolg angeht: Ich hätte die Klage nicht auf den Weg gebracht, wenn ich sie nicht für berechtigt hielte. Wie der Verfassungsgerichtshof das bewertet, werden wir abwarten müssen.
Welche ihrer Rechte sind denn beschnitten worden?
Vor allem die Ausübung des freien Mandats nach Artikel 38, Absatz 4, wonach der Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet ist und sonst niemanden. Das wird durch die Verordnung völlig aufgehoben, denn nach der Verordnung müssen auch die Abgeordneten zu Hause bleiben und dürfen das Haus nur verlassen, um einer „mandatsbedingten Tätigkeit" nachzugehen. Ob eine Tätigkeit mandatsbedingt ist, soll nach der Verordnung nicht der Abgeordnete entscheiden, sondern ein Mitarbeiter der Polizei oder des Ordnungsamts, dem der Abgeordnete dann im Zweifel erklären soll, wo er gerade war, mit wem er gesprochen hat und was der Inhalt des Gesprächs war. Damit wird der Abgeordnete also gezwungen, die durch die Verfassung geschützte Vertraulichkeit des Gesprächs mit Bürgern oder Informanten zu brechen, wenn er kein Bußgeld zahlen oder im Wiederholungsfall sogar in Haft genommen werden will. Das kann nicht sein.
Aber so eine Klage ist ja politisch nicht ganz ungefährlich, denn momentan gilt ja die Formel: Gesundheit vor Bürgerrechte!
Ja, aber das sieht das Grundgesetz so nicht vor: Allein die Menschenwürde steht über allen Grundrechten. Bei allen anderen Grundrechten muss man eine sehr genaue Abwägung treffen, welcher Eingriff in welches Grundrecht schwerer wiegt.
Damit wird deutlich, dass weder alle aktuell ergriffenen Maßnahmen richtig noch alle ergriffenen Maßnahmen falsch sind. Wenn wir wirklich Gesundheit schützen wollen, dann sollten wir nur die Maßnahmen ergreifen, die auch tatsächlich Gesundheit schützen. Darum kann mir niemand erklären, warum es gesundheitsgefährdend ist, im Geschäft eine Hose zu kaufen, während dies beim Kauf eines Fahrrads nicht ist. Das ist für mich nicht nachvollziehbar und schlichte Willkür.
Es muss jede Maßnahme genau geprüft werden, und da der Senat das anscheinend nicht gemacht hat, muss das Verfassungsgericht prüfen, ob er die Verfassung beachtet hat. Diese Prüfung habe ich mit meinem Antrag erbeten – nicht mehr und nicht weniger.
Aber mit dieser Einstellung – Gesundheit gegen Freiheit – droht ihnen ja die Gefahr, dass Ihnen das gerade die älteren Wählergruppen übel nehmen könnten?
Ich treffe Entscheidungen nicht danach, wer mich dann leiden kann oder nicht, sondern nach inhaltlicher Überzeugung –
als Liberaler. Jedes Handeln einer Regierung muss demokratisch durch Gesetze des Parlaments legitimiert sein. Wer die Antwort auf derart grundsätzliche Fragen davon abhängig macht, wo er gerade eine Wählerstimme mehr oder weniger erhält, erweist unserem Land keinen guten Dienst – und sich selbst auf Dauer auch nicht. Es geht aber hier auch nicht um die Frage von Gesundheit oder Freiheit, sondern von beidem. Und das erreichen wir nur durch planmäßiges, sinnvolles Regierungshandeln und nicht ideologische Willkür.
Da wird ja momentan auch ein „Masterplan Neue Normalität" diskutiert. Was glauben Sie denn bei den Bürgerrechten, wo da die Reise hingeht?
Also wir haben hier in Deutschland das Grundgesetz, das unser Zusammenleben regelt. Daher gibt es keine „Neue Normalität", sondern es gibt nur die Normalität. Und diese Normalität, die wir hier bis Mitte März dieses Jahres hatten, die müssen wir wieder erreichen, da müssen wir sofort wieder hinkommen. Mit solchen Parolen von einer „Neuen Normalität" die Grundrechte infrage zu stellen, dazu darf es nicht kommen, dagegen müssen wir kämpfen.
Hätten Sie es denn Anfang März für möglich gehalten, dass die Grundrechte in Deutschland so ratzfatz ausgesetzt werden können?
Für möglich halte ich im Leben generell erst mal alles, aber dass innerhalb weniger Tage die Grundrechte derart weitgehend eingeschränkt werden können – ohne dass ein Krieg oder eine Naturkatastrophe biblischen Ausmaßes über uns hereingebrochen wäre – das hätte ich nicht gedacht. Ich bin aber noch mehr erstaunt darüber, wie wenig das reflektiert wird. Also wie wenige kritische Stimmen es dazu gegeben hat. Sei es von den Parteien, außer natürlich von den Freien Demokraten, aber auch von allen anderen, gesellschaftlichen relevanten Gruppen und Organisationen. Da kam nichts Kritisches von den Gewerkschaften, oder den Kirchen. Die einzigen die sich geäußert haben waren die Wirtschaftsverbände, die nun eine schnelle Rückkehr zur Normalität fordern, aber sonst scheint der Großteil der Verantwortlichen wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen.
Also bleibt die FDP ihrer Vita als Wirtschaftspartei treu, der Rubel muss rollen?
Unser Land lebt von seinem erarbeiteten Wohlstand, der die Grundlage vieler Existenzen ist. Ich glaube, dass die Kosten durch diese volkswirtschaftlich unüberlegten Maßnahmen wesentlich verheerender sein werden, als man momentan annimmt. Nicht nur in Geld, sondern auch in den gesundheitlichen Folgen, die daraus entstehen, wenn plötzlich oder auch langsam wirtschaftliche Existenzen vernichtet werden.
Wenn erst mal Arbeitsplätze vernichtet sind, dann sind sie weg und werden so schnell nicht wieder entstehen, erst recht nicht in einer weitgehend regulierten Wirtschaft, wie wir sie mittlerweile in Deutschland haben. Diese Entwicklung trifft alle: von der Putzfrau über Start-ups, vom lokalen Einzelhandel bis zur Automobilindustrie, die Absatzmärkte verliert.
Das wird auch weder mit Krediten – die ja trotzdem von den Unternehmern zurückgezahlt werden – gelöst, noch mit Milliarden vermeintlicher Geldgeschenke. Erhöhte Geldmengen bedeuten immer auch eine Entwertung des vorhandenen Geldes, der Kaufkraft des Ersparten. Das vergessen viele dabei, und von doppelt so viel Geld auf dem Konto habe ich nichts, wenn sich die Preise in der Zeit ebenfalls verdoppeln.
All das müssen wir mit bedenken, wenn wir darüber sprechen, welche Maßnahmen aktuell sinnvoll sind und welche eben nicht. Diese Debatte muss geführt werden – und auch deshalb habe ich geklagt.