Heysel – der alte Name des heutigen König-Baudouin-Stadions in Brüssel steht für eine der größten Katastrophen des europäischen Fußballs. 39 Menschen verloren 1985 beim Europapokalfinale zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool bei schlimmen Ausschreitungen englischer Hooligans ihr Leben. Die Zuschauertragödie veränderte den Fußball.
Michel Platini lief an wie immer, traf wie immer – und jubelte auch wie immer. Doch an diesem 29. Mai 1985 war im Brüsseler Heysel-Stadion beim Elfmetertor des französischen Superstars zum 1:0-Sieg des italienischen Rekordmeisters Juventus Turin im Finale des Europapokals der Landesmeister gegen den englischen Topclub FC Liverpool nichts wie immer gewesen: Durch brutal-blindwütige Ausschreitungen britischer Hooligans starben schon vor Spielbeginn 39 Fans, hauptsächlich Italiener, auf den Rängen teilweise einen qualvollen Tod. Die Heysel-Katastrophe vor 35 Jahren steht für eine der schlimmsten Zuschauertragödien des europäischen Fußballs, nach der auch nichts mehr sein sollte wie immer.
Platini verfolgen die Geschehnisse jenes Abends in Belgiens Hauptstadt wie ein Trauma. „Ich habe mich gefragt", erinnerte sich „Platoche" vor einigen Jahren, „ob ich den Elfmeter schießen soll. Ich habe mich dazu entschlossen, um den Italienern wenigstens ein bisschen Freude zu schenken. 30 Sekunden später habe ich meine Entscheidung schon bereut."
Dabei hatte der geniale Spielmacher wie alle Mit- und Gegenspieler das Ausmaß und die Dimension, die unfassbare Tragweite des dumpfen Gewaltausbruchs scheinbar hirnloser Krawallmacher, seinerzeit auf dem Platz schlichtweg noch nicht erfassen können. Die fast 90-minütige Verlegung des Anstoßes sowie die zahlreichen Einsatz- und Rettungskräfte im Stadioninnenraum ließen die unmittelbar am Endspiel beteiligten Akteure gerade einmal nur erahnen, dass sich in der Arena etwas Schlimmes zugetragen haben musste. „Viele von uns wollten nicht spielen", berichtete Platini viele Jahre später, „aber die Funktionäre haben uns angefleht zu spielen. Wir sollten uns in der Kabine weiter warmhalten, denn wenn nun alle Menschen das Stadion in Panik verließen, würden alle Rettungswege verstopft. Die Wahrheit wurde uns verschwiegen, man hat uns lediglich etwas von nur zwei oder drei Todesopfern erzählt."
In Wirklichkeit waren neben 32 Italienern auch vier Belgier, zwei Franzosen und ein Nordire ums Leben gekommen und 454 weitere Fans teilweise schwerstverletzt worden. „Der Tag, an dem der Fußball starb", titelte die englische Zeitung „Daily Mirror" am nächsten Morgen.
Die Katastrophe, durch die ein Fußball-Fest zu einem Albtraum geriet, war das Resultat einer verhängnisvollen Mischung aus Gewalt, Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit. Untilgbare Schuld tragen seit diesem Tag englische Hooligans, die belgische Polizei und Funktionäre des zuständigen Europa-Verbandes Uefa, nicht zuletzt auch wegen der aus rein machtpolitischen Proporz-Gesichtspunkten getroffenen Entscheidung für die Austragung des Finals der 55 Jahre alten und entsprechend baufälligen Arena.
Mangelhaftes Sicherheitskonzept
Am Vormittag des Spieltages hatten Juve-Anhänger in Brüssels Innenstadt Feuerwerkskörper auf Fans des englischen Titelverteidigers geschossen. Die Briten reagierten mit Schmähgesängen und Prügel. Entsprechend lag bereits viel Aggressivität in der Luft, als „Reds"-Fans von der Insel ins Stadion strömten und ihre Tickets vor den Augen des überforderten Ordnungspersonals über eine niedrige Mauer wieder an weitere Liverpooler weiterreichten. Turins Schlachtenbummler ihrerseits waren in großer Mehrzahl mit Karten für den unmittelbar an den Liverpooler Fanbereich grenzenden Block angereist. Dieser Block Z war in den Planungen für neutrale Besucher vorgesehen und deswegen auch nur mit einem lächerlichen Maschendrahtzaun von der Zone der Engländer getrennt. Doch aufgrund des mangelndes Interesses belgischer Fans an dem Endspiel verkaufte ein korrupter Uefa-Funktionär die liegen gebliebenen Karten auf eigene Rechnung an ein italienisches Reisebüro, wo die Billets bei den Juventus-Fans natürlich reißenden Absatz fanden.
Besonders durch diese unglückselige Konstellation nahm die Tragödie ihren Lauf. Beide Lager bewarfen sich mit bröckelnden Steinen aus dem längst baufälligen Tribünenbereich, ehe ein wütender und mittlerweile überwiegend stark alkoholisierter Mob von mehreren Hundert Engländern den mickrigen Zaun durchbrach und mit Messern, Flaschen und Eisenstangen Jagd auf die Turiner Fans machte. Die Italiener wurden bei ihren panischen Fluchtversuchen zu Tode getrampelt und zerquetscht oder erstickten. Weitere Juve-Fans starben, als die Liverpooler Horde ihre Opfer massiv gegen eine Betonabgrenzung drängten, die marode Mauer unter dem Druck einstürzte und viele Südeuropäer unter ihren Trümmern begrub. Im fernen Italien mussten nach der Tragödie Kinder vaterlos erwachsen werden, weil englischen Gewaltverbrechern bei einem Fußball-Spiel einfach nur der Sinn danach stand, Anhänger der gegnerischen Mannschaft mit absurder Brutalität zu attackieren, zu schlagen, zu treten – und zu töten.
Die juristische Aufarbeitung blieb für die Hinterbliebenen der Opfer und die Überlebenden des Gewaltexzesses weitgehend unbefriedigend. Aus Mangel an Beweisen für individuelle Schuld wurden in einem erst nach Jahren angestrengten Gerichtsprozess gerade einmal 14 von insgesamt nur 26 angeklagten Liverpool-Fans zu Haftstrafen von gerade einmal bis zu drei Jahren verurteilt. Brüssels Polizeichef, ein Funktionär des belgischen Verbandes und der damalige Schweizer Uefa-Generalsekretär Hans Bangerter erhielten wegen ihrer Fahrlässigkeiten im Vorfeld und während der Ausschreitungen Bewährungsstrafen. Der belgische Staat leistete wegen der Fehler seiner Bediensteten eine Entschädigung von insgesamt 1,25 Millionen Euro an die betroffenen Familien.
Nach Heysel kamen die Reformen
So unzureichend die Richtersprüche in den Augen der geschockten Öffentlichkeit erschienen, so weitreichende Konsequenzen zog der Fußball aus der Tragödie. Englische Vereine blieben nach Heysel für fünf Jahre von den damals noch drei Europapokal-Wettbewerben ausgeschlossen, Liverpool musste sogar noch zwei Jahre länger zuschauen. Die weiteren Lehren aus der Heysel-Katastrophe veränderten im Laufe der Jahre, zusätzlich bestärkt durch die Hillsborough-Katastrophe vier Jahre später in Sheffield, als bei einem FA-Cup-Halbfinale 96 Liverpool-Fans starben, die Fußball- und Fan-Kultur. Denn Behörden und Verbände in ganz Europa verschärften die Sicherheitsstandards für bestehende und neue Arenen drastisch. Viele Jahre waren Stehplätze und Alkohol verboten, die Einlasskontrollen wurden strenger und Kameras zur Videoüberwachung in zahlreichen Arenen Teil der Grundausstattung. Mithin bedeutete Heysel letztlich auch eine wegweisende „Kehrtwende zur Regulierung des Zuschauerverhaltens", wie der Aachener Politologe und Fankultur-Experte Richard Gebhardt die Auswirkungen der Zuschauertragödie einschätzt.
In Italien lebt die Erinnerung an die Opfer von 1985 weiter – allerdings nicht nur in trauerndem Respekt. Bis heute verhöhnen Fans von Turiner Gegnern die in Heysel getöteten Juve-Anhänger und provozieren dadurch mitunter neue Gewalt. Juventus lehnte unterdessen mehrfach die Forderung nach einem Verzicht auf den Triumph von 1985, ihrem ersten Erfolg im Landesmeister-Pokal, ab. Immerhin aber errichtete der Club in seinem Juve-Museum zum Gedenken an seine traurigste Stunde unmittelbar neben dem Duplikat der riesigen Trophäe auch eine Stele mit den Namen seiner in Brüssel gestorbenen Fans.
Platini hat die Unglücksstätte, die nach einem kompletten Abriss und Neubau seit Mitte der 90er-Jahre König-Baudouin-Stadion heißt, bis heute – auch in seiner späteren Funktion als Uefa-Präsident – nie wieder betreten. „Vielleicht", meinte der ehemalige Europa-Fußballer des Jahres, „vielleicht werde ich, ohne dass die Medien es mitbekommen, irgendwann das Stadion einmal wieder besuchen, um meinen Frieden zu machen mit all den Toten. Ich habe ihnen so viel zu sagen – und mir auch."