Die Digitalisierung wurde lange Zeit vor allem in den Vereinen vernachlässigt, die Folgen der Corona-Pandemie haben dies geändert. Online-Angebote im Sport werden auch nach der Krise bleiben.
Manuel Neuer war aus seinem eigenen Fitnessstudio im Keller zugeschaltet, David Alaba legte seine Isomatte auf dem Flur aus, Javier Martínez verlegte die Einheit nach draußen auf den heimischen Balkon. Beim Cyber-Training des FC Bayern München während der strengen Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie suchten sich die Profis ihr eigenes Plätzchen, doch die Sache einte die in ganz München verstreuten Spieler.
„Was mich sehr freut, ist die positive Gruppendynamik, die entsteht, selbst wenn alle nur virtuell miteinander verbunden sind“, sagte Prof. Dr. Holger Broich. Er ist wissenschaftlicher Leiter und Leiter Fitness beim deutschen Fußball-Rekordmeister, und in dieser Position bewachte er gemeinsam mit Cheftrainer Hansi Flick die Übungen der Bayern-Profis. Spinning-Bike sowie Stabilisations- und Krafteinheiten standen meistens auf dem Programm, mitunter streute Broich aber auch eine Spaßübung ein. Ein Ball-Artist wurde eingeladen, danach sollten die Spieler selbst den Ball jonglieren und dabei ihr T-Shirt ausziehen. „Die Vasen in unseren Wohnzimmern waren in großer Gefahr“, sagte Angreifer Thomas Müller schmunzelnd. Fußballer trainieren natürlich lieber zentriert und gemeinsam auf dem Platz, und doch hat die Coronakrise gezeigt, dass sich selbst Profisportler zur Not online fit halten können.
Eine neue Dimension
Auch im Breitensport erfreute sich das Cybertraining in den vergangenen Wochen zunehmender Beliebtheit. Es dürfte auch dann noch von Bedeutung sein, wenn die langsame Öffnung der Sportvereine, Fitnessstudios und Schulen irgendwann abgeschlossen ist. „Der Sport kommt immer mehr zu den Menschen und nicht umgekehrt“, sagte Trendforscherin Anja Kirig gegenüber FORUM. Dies sei zwar auch schon vor der Pandemie zu beobachten gewesen. „Wir erleben keine komplett neue Sportwelt“, betonte Kirig, „aber Corona wirkt wie ein Katalysator.“
Kirig, die am Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main Veränderungsprozesse in der Wirtschaft und Gesellschaft analysiert, hielt in der Vergangenheit bereits Vorträge in Sportvereinen über die zunehmende Bedeutung der Digitalisierung. „Da wurde ich oft belächelt oder etwas schief angekuckt“, erinnerte sie sich: „Solche Dinge wurden bestenfalls als ‚Nice to have‘ abgestempelt, oder als etwas für Technikfreaks.“ Die Corona-Krise hat das Bedürfnis nach Bewegungsangeboten über das Internet aber schlagartig erhöht. „Die Digitalisierung hat im Sport eine neue Dimension angenommen“, sagte Kirig. Dies bedeute aber natürlich kein Ende des realen Sporttreibens. „In Zukunft wird es verstärkt zu Vermischungen von analogen und digitalen Angeboten kommen.“ Zwei Leute machen Gymnastik in einem Raum, ein Dritter, der aus welchen Gründen auch immer nicht dabei sein kann, schaltet sich online dazu.
Komplett auf Online-Angebote waren zuletzt die Menschen angewiesen, die im Fitnessstudio angemeldet sind. Normalerweise arbeiten dort mehr als elf Millionen Menschen in Deutschland an ihrem Körper, doch die Studios waren zwischenzeitlich wegen der Ansteckungsgefahr gesperrt. „Durch die Krise ist uns – wie vielen anderen Branchen auch – schlicht und einfach die Geschäftsgrundlage genommen worden“, sagte Pierre Geisensetter, Kommunikationsleiter bei „McFit“. Das Unternehmen hat aus der Not eine Tugend gemacht und sein Online-Angebot nochmal kräftig aufgestockt. Beim Stream „The Big Pump“ wurden zehn Stunden täglich in Echtzeit Workouts und Talks zum Kernthema Fitness gesendet. „Wir hatten bis zu einer Million Zuschauer in der Spitze“, sagte Geisensetter stolz: „Das war unglaublich.“
Auch auf das digitale Kursangebot „Cyberobics“ gab es einen regelrechten Run. „Wir als Branche müssen die Krise auch als Chance begreifen und digitaler werden“, forderte daher Geisensetter. Der ehemalige TV-Moderator glaubt zwar nicht, dass das Wohnzimmer bald das Gym ersetzen wird, aber es könne eine „effektive Ergänzung“ sein. Gelingt es den Fitnessstudios, den digitalen Content für den Kunden „auf einfache Weise mit einem mobilen oder stationären Wourkout zu verbinden“, so Geisensetter, „können wir mit Sicherheit schnell von mehr als nur einem Trend sprechen.“ Auch Sportvereine sind längst auf den Zug aufgesprungen. Einer der Vorreiter war Basketball-Bundesligist Alba Berlin, der mit seiner „täglichen Sportstunde“ die Kinder in der heimischen Wohnung zur Bewegung animierte. Alba setzte damit auf das richtige Pferd, mit den Videos auf Youtube erreichte der Club täglich sage und schreibe 1,5 Millionen Menschen.
„Das ist wirklich schön. Teilweise bekommen wir sogar Zuschriften aus dem Ausland. Ich habe sogar einen Brief aus Brasilien gesehen“, sagte Alba-Jugendtrainer Stefan Ludwig der „FAZ“. Insgesamt haben mehr als 100 Trainer Ideen für das Konzept beigesteuert, um auf Kindergartenkinder, Grundschüler- oder Oberstufenschüler ausgerichtete Angebote zu erstellen. Alba engagiert sich seit Jahren im Schulsport, von daher sei „ziemlich schnell“ die Idee aufgekommen, „das alles online anzubieten“, berichtete Ludwig. „Und das haben wir tatsächlich auch in nur wenigen Tagen umgesetzt.“
Pilotprojekt von Alba Berlin
Der frühe Einstieg ist ein Faktor für den großen Erfolg, der zweite sind die an die Übungen angelehnten Geschichten. „Mit Geschichten regt man einfach die Fantasie und Begeisterung der Kinder an“, sagte Ludwig: „Es macht ihnen viel mehr Spaß, wenn ein Löwe andere Tiere jagt, als wenn man einfach Fangen spielt.“ Eigentlich habe er vor der Kamera nicht viel anderes gemacht als in der Halle, aber so richtig wusste Ludwig nie, „wie das ankommt, was man da macht. Man sieht die Reaktionen der Kinder nicht.“
Albas großer Erfolg stachelte auch zahlreiche Breitensportvereine dazu an, die Digitalisierung voranzutreiben. „Die Sportstunde von Alba Berlin ist eine tolle Geschichte, die uns inspiriert hat, auch so etwas zu starten und unsere eigenen Trainingsschwerpunkte zu setzen“, sagt Benjamin Zander. Der Nachwuchstrainer beim SV Arminia Magdeburg bot über eine App mehrmals pro Woche Anleitungen für eine Sportstunde an. Beim SV Turbine Neubrandenburg motivierte der Verein seine Mitgliedern mit einem virtuellen Lauf von Lissabon im Westen Europas nach Tschaikowski in Westrussland an. Dabei wurden die Laufkilometer der Einzelläufer zusammengerechnet. „Der Verein kann nichts für Corona, wir auch nicht. Also halten wir zusammen, bis es wieder geht“, sagte Turbine-Mitglied Hartmut Draber, der durch die Aktion sogar deutlich mehr gelaufen ist als noch vor der Corona-Krise.
Auch einige Spitzenathleten entdeckten in der Krise die digitale Plattform für sich. Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo zum Beispiel begrüßte in ihrem Youtube-Projekt „Herzsprung“ täglich Tausende Leute mit einem freundlichen „Hallo, ihr Weltmeister!“ und innovativen Bewegungsangeboten. „Die Stunde gibt ihnen Struktur, lenkt sie ab, und im besten Fall lernen sie auch noch etwas“, sagte Deutschlands Sportlerin des Jahres. Auch sie dürfte mittelfristig von der Aktion profitieren, denn mit der Aktion hat Mihambo viele junge Leute erreicht, die sie vorher nicht kannten. Für die Eigenvermarktung von Topathleten sind Online-Sportangebote für Fans sehr interessant.
Triathlet Jan Frodeno trieb es dabei auf die Spitze – allerdings nicht für die eigene Geldbörse. Der dreimalige Weltmeister absolvierte zu Hause einen Triathlon über die Ironman-Distanz, während ihm Zehntausende Menschen bei der Quälerei über acht Stunden via Livestream zusahen. Frodeno schwamm 3,8 Kilometer in seinem Pool mit Gegenstromanlage, fuhr 180 Kilometer Rad auf der Rolle, lief 42,195 Kilometer auf dem Laufband – und sammelte dabei mehr als 200.000 Euro an Spendengeldern ein.
„Wir wollten zeigen, dass man auch zu Hause viel machen kann“, sagte der 38-Jährige nach seiner Aktion. Während der Übertragung sprachen ihm sogar andere prominente Sportler wie beispielsweise Fußball-Weltmeister Mario Götze („Du gibst beim Radfahren eine bessere Figur ab als ich beim Kicken mit meinem Sohn“) oder Skifahrer Felix Neureuther („Jetzt habe ich das Gefühl, einen Ironman bestreiten zu wollen“) Mut und Unterstützung zu.
Die Spenden kamen Frodenos Wahlheimat Spanien in der schweren Corona-Krise zugute, doch auch der Triathlet selbst hatte durch die enorme Aufmerksamkeit an dem Projekt einen Mehrwert. Frodeno konnte auf der Kleidung und den Mützen prominent seine Sponsoren präsentieren und steigerte durch die verrückte Aktion seinen Bekanntheitsgrad.
Auch der Rundfunk Berlin-Brandenburg denkt in der Krise um. Weil nahezu alle RBB-Mitarbeiter im Homeoffice sind, stellte das Medienhaus seine Sportangebote „Bewegte Pause“ oder „Pausen-Yoga“ einfach online – zum Mitmachen von zu Hause aus. Der Zugriff darauf ist überraschend groß.
All diese Beispiele zeigen, dass die Digitalisierung im Sportbereich durch die Corona-Krise einen deutlichen Schub erfahren hat. In Dänemark arbeiten einige Clubs sogar daran, in Zeiten von Geisterspielen die Fans online dazuzuschalten und virtuell auf großen Bildschirmen rund um das Feld erscheinen zu lassen.