Vor 65 Jahren präsentierte Citroën mit der DS eine Sensation. Das Auto erlangte Kultstatus – vom ersten Verkaufstag an. Heute sind die Fahrzeuge mit der hydropneumatischen Federung gesuchte Sammlerstücke, und je nach Zustand kostet eine gut erhaltene DS heute bis zu 50.000 Euro.
Ein freundlicher Herbsttag hatte sich angekündigt am Pariser Himmel des 6. Oktober 1955. Als die riesigen Glaskuppeln des Grand Palais dem diffusen Morgenlicht einen Weg in die Hallen bahnten, öffneten sich die Tore zum „42. Salon de l’Auto". Die Massen strömten, doch sie verteilten sich nicht. Es gab nur ein Ziel: den Stand von Citroën. Dort war sie angekündigt, die Präsentation des neuen, des großen, des modernen Citroën. Nur wenig war zuvor durchgesickert. Eine Automesse war noch Ort der Enthüllung. Im Wortsinn.
Aussehen, Technik, Details – alles Spekulation. Bis zu jenem Morgen. Den Besuchern am Stand verschlug es die Sprache. Was sie sahen, war schlichtweg eine Sensation. „Une Bombe", wie die Franzosen sagen. Getauft hatte Citroën dieses Auto DS. Gesprochen Déesse, übersetzt Göttin.
Es war, als wäre ein Raumschiff in der Halle gelandet. Die Form, die Materialien, die hydraulische Bremsanlage, die hydropneumatische Federung, das Interieur, der Sitzkomfort – der Auftritt wirkte derart hypnotisierend, dass innerhalb der ersten halben Stunde 800 Bestellungen eingingen. Die Formulare wurden dem Standpersonal förmlich aus den Händen gerissen. Der „Figaro" berichtete am Folgetag, dass Kaufwillige – um eher zum Zuge zu kommen – mit Scheckheften und Geldscheinen wedelten, als seien es bunte Fähnchen. Bis zum ersten Abend hatten 12.000 Messebesucher ihre Unterschrift unter einen Kaufvertrag für ein Auto gesetzt, mit dem sie noch keinen Meter gefahren waren. Nach zehn Tagen, zum Schluss des Pariser Salons, zählte Citroën 80.000 Bestellungen. Eine Bestmarke für immer.
Den ersten Entwicklungsauftrag hatte der für diesen Erfolg verantwortliche Ingenieur André Lefèbvre bereits zwei Jahrzehnte zuvor von Generaldirektor Pierre Boulanger erhalten. Das Lastenheft von 1935 sah die Entwicklung eines großen Reisefahrzeugs vor, um in Zukunft den Traction Avant – besser bekannt als „Gangsterlimousine" – zu ersetzen. Stromlinienform sollte der Nachfolger haben und möglichst lange, komfortable Federwege, zudem mindestens Tempo 135 packen. Leiter der Designabteilung zu jener Zeit war ein hochbegabter, aus Varese stammender Industriezeichner namens Flaminio Bertoni. Schon seine Vorkriegsentwürfe ließen erkennen, wohin die Reise gehen sollte.
Viele Werkstätten waren anfangs überfordert mit der opulenten Technik
Für Frankreich ging sie zunächst durch die Hölle, die Nazis besetzten das Land. Mit viel Mut und noch mehr Risiko ließen sich die wichtigsten Pläne vor Hitler und seinen Schergen verbergen. Die zeigten sich eher interessiert an kriegstauglicher Technik als an komfortablen Reiselimousinen. Frankreichs Automobilindustrie erlebte ihre dunkelsten Jahre – auch Renault, Peugeot oder Panhard mussten für die Wehrmacht produzieren.
Nach der Befreiung aber machten sich Boulanger, Lefèbvre und Bertoni sofort wieder an die Arbeit. VGD hieß das Projekt intern ab 1946: Voiture de Grande Diffusion – Wagen mit großer Verbreitung. Womit klar war: Die Zukunft dieses Automobils sollte allen gehören, nicht nur den Eliten. Die Pläne selbst setzten auf eher konventionelle Fertigungsmethoden. Der Nachkriegsmangel an Geld und Material zwang zur Zurückhaltung. Noch.
Bis 1949 entstanden drei Gipsmodelle, ehe mit dem tragischen Unfalltod Boulangers ein Jahr später das Projekt vor einem radikalen Neustart stand. In absoluter Geheimhaltung ging es von nun an um nichts anderes, als um eine automobile Revolution. 1952 hatte Bertoni die Grundform gefunden. Doch Geniales zeigt sich oft erst im Detail. Etwa durch das Ansetzen der trompetenförmigen Blinker hinten in Dachhöhe. Oder durch den erstaunlich weit zurückversetzten Einbauort des Motors, der die ultraflache Front ermöglichte.
Citroën achtete geradezu panisch auf Geheimhaltung und schreckte nicht mal davor zurück, das angesehene Fachmagazin „L’Auto Journal" wegen der Veröffentlichung von Fotos getarnter Prototypen juristisch zu belangen. Ohne Erfolg, denn zu sehen war auf den Bildern im Grunde nichts, was irgendeine Erkenntnis brachte. Außer jener, dass Geheimniskrämerei erst recht Interesse weckt.
Auch Deutschlands Leitmedium „Auto Motor und Sport" übte sich drei Jahre vor der Präsentation in Spekulationen um die künftige Motorisierung des Wagens. Mit der Vermutung einer „später möglichen Benzineinspritzung" lag man richtig, mit der Aussicht auf einen Diesel nicht. Selbstzünder gab es nie in der DS. Alle Motorvarianten basierten auf einem Reihenvierzylinder, dessen Urahn schon im Traction Avant saß.
Auch der Kundenwunsch nach einem Sechszylinder blieb unerfüllt – ein echtes Manko. Diesen Vorwurf musste sich Citroën gefallen lassen. Wie auch den, dass man den Erstkäufern einer DS allerhand zumutete. So erwies sich das zunächst verwendete Hydrauliköl als äußerst aggressiv in heißem Zustand. Dichtungen wurden angefressen wie Salatblätter zur Schneckenzeit. Très chic – das war zwar die einhellige Meinung zu den rahmenlosen Türfenstern. Einem ordentlichen Regenguss hatten sie aber anfangs nicht viel entgegenzusetzen.
Vor allem Werkstätten auf dem Lande zeigten sich überfordert angesichts der opulenten Technik. Meterlange Hydraulikleitungen schlängelten sich über Furchen, Sicken oder Klemmen durch Pumpen, Ausgleichsbehälter und Ventile quer durch die gesamte Konstruktion. Hinzu kamen die per Gummibodenpilz betätigten Bremsscheiben vorne oder Karosserieteile aus Kunststoff. Das alles war vielleicht ein bisschen viel für Werkstattmeister, die es bis dato gewohnt waren, Probleme mit dem Hammer und einer Flasche Beaujolais zu lösen.
Die Unternehmensleitung entschied vorsichtshalber, reparaturbedürftige Autos nachts mit großen Transportern in der Provinz abzuholen und ins Werk am Quai de Javel im Pariser Westen zu bringen. Kostenrechner im Haus schlugen erstmals Alarm.
Aufhalten konnten die Kinderkrankheiten den Erfolg der DS nicht. Selbst Staatspräsident Charles de Gaulle erlag dem nonchalanten Charme der Göttin, die ihm am 22. August 1962 das Leben retten sollte. Obwohl die Kugeln aus der Waffe eines Attentäters in Petit Clarmat, südlich von Paris, zwei Reifen seiner schwarzen Dienst-DS durchsiebten, blieb sie steuerbar. Der Chauffeur, Gendarmerieleutnant Francis Marroux, brachte den Präsidenten in rasender Fahrt auf nur zwei intakten Rädern in Sicherheit zum 20 Kilometer entfernten Militärflughafen von Villacoublay. Nur eine der vielen Geschichten, die sich um die legendäre ölpneumatische Federung und die automatische Niveauregulierung des Wagens ranken.
Als Kunstobjekt in Münchner Pinakothek
Feine Carrossiers wie Chapron oder Heuliez formten Cabrios und Coupés. Citroën selbst baute den Wagen ebenfalls in einer offenen Version, zudem als Kombi. Die fantastische Federung ließ die in Serie gebaute Ambulanz zum meistverkauften Krankenwagen Europas werden. Fantomas enteilte Inspektor Juve – alias Louis de Funès – in einer fliegenden DS, und Heinrich Böll verlieh dem Wagen als einer der frühen Besitzer in Deutschland den Nimbus der automobilen Avantgarde für intellektuelle Feingeister. Die zweite Serie der Baureihe erhielt ab 1967 die berühmten, mitlenkenden Scheinwerfer hinter Glas. Dank solcher Augen schaffte es die DS als Kunstobjekt in die Münchner Pinakothek.
Citroën wäre ohne dieses Auto ganz sicher eine andere Marke. Die Entwicklung, die Innovationsfülle und die Imagebildung gelten bis heute als einmalig in der Autowelt. Das unternehmerische Risiko allerdings auch. Zwei Jahrzehnte lang hat die Götterdämmerung gedauert. Als am 24. April 1975 die letzte Göttin die Werkshallen verließ, waren mehr als 1,3 Millionen ihrer Art vom automobilen Olymp herabgeschwebt. Die Klingelbeutel bei Citroën aber waren endgültig leer. Die aufwendige Fertigung sowie das extravagante Marketing hatten Unsummen verschlungen. Peugeot übernahm ein Jahr später die Schulden und damit das Sagen. Die Messe war gelesen.