Die Gerichte der Charlottenburger „Lamazère Brasserie" wirken einfach und schnörkellos. Beim ersten Bissen wird aber klar: gut angetäuscht! Bei Régis Lamazère kommt bodenständig Französisches mit originellem Twist auf Restaurant-Niveau auf den Teller.
Sprechen Sie dreimal hintereinander unfallfrei „Saucisson Sec" aus! Dann haben Sie als Nicht-Französisch-Muttersprachlerin einen Knoten in der Zunge, ein heiteres Geplänkel mit dem Service und noch viel mehr Lust auf ein hauchdünnes Scheibchen von der würzigen Schweine-Räucherwurst auf dem Holzbrettchen. Die Auvergne heißt uns in der „Lamazère Brasserie" in Gestalt der stolperfreudigen Nicht-Salami, das Elsass mit einem Glas Crémant rosé willkommen. Wir lassen uns auf dem langen Terrassenstreifen vor dem Lokal nieder und tun das, was alle wollen: Drei bis vier Gänge speisen, ordentlich Wein trinken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.
„Kommt lieber früh", hatte Besitzer Régis Lamazère gebeten. Um 17.30 Uhr, kurz vor der Öffnung, sind wir da. „In einer halben Stunde ist alles voll." Alle Welt will Sommer tanken, endlich wieder draußen sitzen und gut essen. Wir schneiden eine Scheibe hausgemachte Schweinenacken-Terrine in Häppchen, reichen Brotscheiben herum, fischen mit der Holzzange Cornichons und Silberzwiebeln aus dem Keramiktopf. „Zum Aperitif gehört immer eine Scheibe Terrine. So bin ich aufgewachsen."
Das herzhafte Entrée macht Freude, während wir uns mit Besitzer Règis Lamazère über die wohl ungewöhnlichsten Monate seiner beinah siebenjährigen Charlottenburger Gastronomie-Geschichte unterhalten. Bis Ende März blieben die Schotten nach der coronabedingten Anordnung dicht. Lamazère plante um und richtete das Geschäft auf den bald wieder erlaubten Außer-Haus-Verkauf aus. Die angebotenen „Plats du Jour" liefen gut. „Die Tagesgerichte waren sous vide und in Beuteln, sodass alles hygienisch war", sagt Lamazère. „Unsere Idee war von Anfang an, Corona zu respektieren. Und wir stellten fest, dass die Leute von hier kommen." Ein Glück, dass das Lokal am Stuttgarter Platz stark im Kiez und in der Nachbarschaft verankert ist. Das erleben wir mit: Wer vorbeikommt grüßt oder macht auf einen Schwatz, ein Glas oder eine Zigarette an einem der Stehtische draußen Halt.
Langeweile gibt es hier nicht
Dorthin entführt der Feinschmeckerfotograf zunächst das confierte Iberico-Schwein zum Fototermin. Dessen Nacken durfte sich in guter Butter zusammenrollen und 13 Stunden im Sous-vide-Wasserbad garen. Erst danach wurde es in dicke Scheiben geschnitten und wie ein Steak angebraten. In der sommerlichen Ausgabe landet es auf einem Bett von Auberginen à la Barigoule, Paprikastreifen und mit ein paar Tupfen schwarzer Knoblauch-Creme auf dem Teller. Das Iberico-Confit ist neben den „Oeufs Cocotte" und dem Milchreis mit Salzkaramell ein Klassiker der „Lamazère Brasserie". Diese drei Gerichte stehen immer auf der Karte.
Dabei lehnt Régis Lamazère die Wiederholung des Immergleichen eigentlich ab. „Das ist viel zu langweilig. Bei mir wird es zum Beispiel nie Pommes Frites geben!" Er weiß, wovon er spricht: Der 36-Jährige ist Sohn eines Pariser Zwei-Sterne-Kochs und einer Berliner Mutter. Er lernte in Frankreich und kochte später bei Alain Ducasse.
Lamazères Gerichte müssen nach Zukunft schmecken. Frisch, bodenständig. Und nach Marktangebot wird ohnehin gekocht. „Ich sage immer, ich mache Bistronomie." Ein Konzept, das gerade in Paris durchstarte. „Du musst die Klassiker mit einem neuen Twist interpretieren. In Paris gibt es ja nur französische Restaurants. Da kannst du nicht immer dasselbe machen." Eigentlich sei sein Lokal eher ein „Bistrot parisien". „Aber ich habe mich damals nicht getraut, es so zu nennen. Der Begriff Bistro ist in Deutschland auf den Hund gekommen."
Wir wollen nicht penibler und französischer als die Marianne oder Asterix und Obelix sein und essen uns einfach weiter durch unsere Auswahl aus der mit zwölf Gerichten übersichtlich gehaltenen Karte. Bei den „Entrées" und den „Plats" gibt es jeweils ein vegetarisches Gericht – etwa einen „Caesar Salat Lamazère" und gebackene Zucchiniblüten mit weißem Bohnen-Püree. Ein Drei-Gang-Menü, das für 42 Euro sehr fair angeboten wird, setzt in bester französisch bodenständiger Manier einen gewissen Hunger voraus. Falls es noch obelixhafter werden soll, kann für acht Euro ein weiterer Gang geordert werden. Keine Sorge: Alle Gerichte sind ebenfalls einzeln bestellbar – die „Entrées" für um die zwölf, die „Plats" für 24 und die Desserts für acht Euro.
180 Weine aus Frankreich
Selbst wenn Régis Lamazère genau weiß, wie er sich seine zukunftsgerichtete Küche vorstellt, steht er nicht mehr persönlich in derselben. Dafür sind zwei Köche im Team zuständig. Die Crew arbeitet seit mehreren Jahren zusammen. Alle haben Erfahrung in der Sternegastronomie. Lamazère ist gern Gastgeber und richtet sein Auge insbesondere auf die Weinauswahl: 180 Positionen, sämtlich aus Frankreich, nicht alle hierzulande bekannt. Viele importiert er direkt von befreundeten Winzern. Wir sind mit dem Hauswein, einem Chardonnay aus dem Languedoc dabei. Der begleitet uns von den ersten drei Tellern an durch den Abend.
Das Tartar mit Austerncreme, Chicorée, Senfsaat und Leinsaatchip-Ohren ist zur runden Scheibe geformt, zeigt sich aber schön stückig geschnitten beim Auseinandergabeln. Es schmeckt im besten Sinne roh, pur und tierisch. Die „Oeufs Cocotte" mit Schnittlauchbrot sind die Überraschungssieger: Eier, Sahne, Comté-Käse, Walnüsse und ein ins Süße spielender Bayonne-Schinken im heißen Schmortöpfchen machen unser kulinarisches Wohlgefühl perfekt. Wir merken uns diesen Lamazère-Twist: öfter Nüsse zum Ei verarbeiten. „If you want to make something tasty, add cholesterol!", gibt die Freundin einen Spruch ihres Onkels zum Besten. Ich sage: „Man nehme nur vom Guten und davon viel."
„Der Fotograf soll auch etwas Eigenes haben", sagt Régis Lamazère, als wir uns bei der Bestellung mit zwei Entrées bescheiden wollen. Er bekommt das sommerlich-frische Gericht schlechthin: angebeizten Kabeljau in zartgrüner Vichyssoise, mit Kürbiskerncreme, Radieschen und Ackersenfblüten. Die kühle De-luxe-Kartoffel-Lauch-Suppe umschmeichelt und das Grünzeug obenauf ergänzt den Kabeljau mit einem Hauch Pikanterie. Der Fotograf verhält sich ritterlich, drittelt mit uns und ist als fischophiler Sarde von diesem Teller nicht nur optisch angetan.
Plätze abends zweimal vergeben
An ihren freien Abenden lassen sich andere Gastronomen gern „bei Régis" blicken. Ein stadtbekannter Profi betätigte sich als „Rezeptdieb" – Felix Mielke ließ sich zu seinem Milchreis für den „Schüsseldienst" in der Brasserie inspirieren, wie er verriet. Règis Lamazère bestätigt lachend: „Das ist doch gut. So macht jeder etwas Eigenes daraus." Dem originalen Milchreis mit Salzkaramell und Mandelkrokant-Chips dürfte in der Brasserie jedenfalls das ewige Leben beschieden sein. In einer sahnigen, halbflüssigen Creme wurde gar nicht mal allzu viel Reis gekocht. Da will keine deutsch-kompakte Textur durchstochen werden; lieber tropft etwas mehr Flüssigkeit mit einem Reiskorn lasziv vom Löffel. Die drei Komponenten mit Schlotz, Knack und salziger Süße werden getrennt serviert und lassen Spielraum für eigene Arrangements auf dem Löffel oder im Mund.
Wer Lust auf Früchtchen hat, bestellt die Sabayone mit Brombeeren und Pistazien. Die mit Eiern und Zucker grundierte Creme ist die französische Schwester der italienischen Zabaione, wird aber statt mit süßem Marsala mit herberem Weißwein aufgeschlagen. Ein Schäumchen, das es in sich hat und sich mit den Beeren und den Steinfrüchten bestens verträgt.
Wir trinken unseren Chardonnay am Stehtisch aus. Längst haben sich die nächsten Gäste eingefunden. Im Grunde ist es, trotz veränderter Spielregeln durch Corona, wie immer: Zweimal am Abend werden die derzeit mit Abstand möglichen 40 Plätze innen und 15 Plätze außen voll. So kam Règis Lamazère bislang ohne unternehmensbedrohende Umsatzverluste durch die Krise. Eines ist ihm und seinen Gästen jedenfalls nicht vergangen: die ungezähmte Freude am bukolischen Genuss. „Wir wollen unseren Spaß haben. Eine Brasserie muss laut und lebendig sein und brummen."
Das gilt nicht nur für den Chef und seine Gäste, sondern für das ganze Team. „Wir haben keine Tischdecken, kein Wachs. Wir haben keinen Platz für Chichi." Der Verzicht auf Unnötiges ist Programm, denn das ist kulinarisch bereits überbordend genug.