Abbrechende Telefonate und Videokonferenzen, schleppende Anfänge beim Homeoffice: Die Corona-Krise hat schonungslos gezeigt, was eigentlich bekannt war. Deutschland ist in Sachen Digitalisierung alles andere als Spitze. Für Ammar Alkassar, Innovationsbeauftragter des Saarlandes, soll die Pandemie diese nun beschleunigen.
Herr Alkassar, alle sprechen über Digitalisierung. Aber was ist Digitalisierung überhaupt?
Jeder hat eine andere Vorstellung von Digitalisierung, deswegen ist es eine echte Herausforderung, das genau zu definieren. Das hat damit natürlich auch Auswirkungen auf die Umsetzung. Für mich geht es bei Digitalisierung vor allem darum, moderne, digitale Technologien effizient dafür einzusetzen, die Herausforderungen unserer Zeit in ganz unterschiedlichen Bereichen zu lösen. Das betrifft sowohl die Wirtschaft, wo die Digitalisierung helfen kann, Prozesse zu optimieren und Dinge einfacher für die Menschen zu machen, als auch das Gesundheitswesen und die öffentliche Verwaltung. Das betrifft aber genauso viele gesellschaftliche Bereiche: Auch Social Media ist Digitalisierung. Wir verändern unsere Art der Kommunikation, indem wir Hilfsmittel benutzen, die es so vor 30 Jahren noch nicht gegeben hat. Das alles ist für mich Digitalisierung.
Gerade, wo wir von der Bedeutung für die Wirtschaft sprechen: Wie kann die Digitalisierung dem Saarland durch den Strukturwandel helfen?
Wir stehen im Saarland derzeit vor einer großen Herausforderung, einer Jahrhundertaufgabe. Wir sind Industrieland durch und durch. Vor 200 Jahren waren wir einer der deutschen Hotspots der Industrialisierung – mit Kohle und Stahl sind wir groß und nicht zuletzt wohlhabend geworden. Wir haben es aber auch immer wieder geschafft, auf neue Technologien umzusatteln und diese zu nutzen, um hier unseren Lebensstandard zu sichern. Als es mit der Montanindustrie Ende der 1950er-, Anfang der 1960er- Jahre schwächer geworden ist, haben wir es geschafft, einen zweiten aufsteigenden Weg zu beschreiten: die Automobilindustrie. Heute stehen wir erneut vor einem Umbruch, denn es gibt neue Technologien, die die Wertschöpfung der Zukunft dominieren werden. Technologiesprünge gab es immer schon. Digitalisierung –
die softwaregetrieben ist – bringt aber anders als die Technologiesprünge der Vergangenheit, völlig neue Chancen und Herausforderungen mit sich. Der Wandel läuft viel, viel schneller. Man muss wesentlich weniger ‚echte‘ Hardware bauen. Für die Eisenbahn etwa, die in ihrer Zeit das Transportwesen revolutioniert hat, musste damals erst einmal Infrastruktur wie Schienen, Bahnhöfe, Verladestationen gebaut werden. Das allein hat 30, 40 Jahre gedauert, also eine ganze Generation. Heute kann man Technologiesprünge vom Schreibtisch aus anschieben. Man bringt innovative Entwicklungen einfach ‚remote‘ auf die Geräte. Das bedeutet vor allem, dass sich unsere Gesellschaft auf eine andere Geschwindigkeit einstellen muss. Nachdem das Automobil erfunden war, hat es eine Generation gedauert, bis es die Kutsche abgelöst hat. Wenn damals jemand Kutscher gelernt hatte, konnte er dies üblicherweise bis zur Rente machen und die nächste Generation ist dann in der neuen Technik ausgebildet worden. Das geht heute nicht mehr. Technologiesprünge passieren nun innerhalb weniger Jahre. Weiterbildung wird deshalb eine Bedeutung bekommen, die sie so zuvor nie hatte. Im Sinne des Strukturwandels ist es außerordentlich wichtig für uns, den nächsten Schritt zu gehen und diese Technologien und ihren Nutzen auch in der wirtschaftlichen Wertschöpfung hier im Land zu verfestigen. Wir investieren bereits seit 50 Jahren massiv in Informatik und Digitalisierung, in der Forschung beispielsweise. Wir haben vor 51 Jahren im Saarland den ersten Lehrstuhl für Informatik bundesweit geschaffen. Damals war Informatik für die meisten noch ein ‚esoterisches Orchideenfach‘. Wir Saarländer haben früh verstanden, dass diese Technologien die Wirtschaft der Zukunft dominieren werden, sodass wir eine Dichte an Forschungsinstituten hier bündeln konnten, die es so sonst nirgendwo gibt. Diese Voraussetzungen müssen wir aber jetzt auch intensiv nutzen. Unsere größte Herausforderung ist aktuell, diesen Schatz zu heben und aus den Investitionen eine noch stärkere Wertschöpfung in der Wirtschaft zu schaffen. Das können wir als Landesregierung nicht anordnen, wir können Anstöße geben und Rahmenbedingungen schaffen, dieses Potenzial zu nutzen. Das haben wir in den vergangenen Monaten auch erfolgreich gemacht. Gerade in der Corona-Krise haben wir gemerkt, dass es einen Bedarf gibt und eine deutliche Beschleunigung in diesem Bereich erlebt.
Welche Lehren können wir in Sachen Digitalisierung sonst aus der Corona-Krise ziehen?
Wir haben gelernt, dass wir in Deutschland in Sachen Digitalisierung nicht so weit sind, wie wir es hätten sein müssen, um in der Corona-Krise die Dinge sofort und reibungslos auf digital umzustellen. Das war aber vielleicht gar nicht so schlecht, denn ich glaube, für viele war das eine Lernkurve. Viele Dinge, die wir gebraucht hätten, wurden zwar seit Jahren diskutiert, vielfach wurden aber noch keine Entscheidungen getroffen. Das betrifft weite Teile der Gesellschaft. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir bei bestimmten Dingen viel schneller sein müssen. Ich gebe mal ein Beispiel: Wir hätten ohne Corona niemals in der Art und Weise und mit der Geschwindigkeit Videokonferenzen etablieren können, wie wir es dann gemacht haben. Die Leute nutzen heute ganz selbstverständlich Videokonferenzen, bei denen man vor einem halben Jahr noch gesagt hätte, das geht nicht, das ist für die Mitarbeiter zu kompliziert. Die Mitarbeiter leben jetzt nicht nur sehr gut damit: Die überwiegende Rückmeldung ist, dass es sogar extrem praktisch ist. Natürlich will man sich auch wieder treffen, aber für 80 Prozent der Meetings ist eine Videokonferenz viel zeiteffizienter: Man sieht sich, man kann Dinge in kurzer Zeit abarbeiten, und es ist keine An- und Rückreise notwendig. Das ist ein ganz großer Fortschritt, den wir aus dieser Pandemie mitnehmen. Der zweite Punkt, der mich wirklich beeindruckt hat, ist, wie agil Verwaltung sein kann. Die Umsetzung der Verordnungen, die wirklich zeitkritisch waren, sind teilweise in 24 Stunden rechtssicher formuliert und veröffentlicht worden. Das funktioniert natürlich nur dann, wenn man Prioritäten setzt und bereit ist, auch nicht alles bis ins letzte Detail geprüft zu haben, sondern bei Bedarf nachzujustieren. Das ist ein Beispiel dafür, dass wir Dinge schnell und gut auf den Weg bringen können, und das wird auch den Blick auf Deutschland verändern. Wir werden in der Welt als sehr beamtenmäßig angesehen, achten immer darauf, dass alles genau und perfekt ist und können damit aber oft nicht mehr mit einer immer schneller werdenden Welt mithalten. Wir haben jetzt gezeigt, dass wir sehr wohl agil sein können. Gerade im Saarland, aber ebenso deutschlandweit. Ich denke, das wird auch nach Corona bleiben. Die Landesregierung hat im Nachtragshaushalt noch mal verdeutlicht, wie wichtig Digitalisierung ist. Wir haben in diesem Bereich im Verhältnis so viel Geld in die Hand genommen, wie kein anderes Land.
Oft hört man im Zusammenhang mit der Digitalisierung im Saarland auch von Künstlicher Intelligenz (KI). Was macht diese so besonders?
KI wird der nächste ganz große Technologiesprung sein – so wie vor 20 Jahren das Internet. KI hat das Potenzial, unsere Gesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung, die Art wie wir leben, komplett auf den Kopf zu stellen. Denn sie ist nicht nur ein Hilfsmittel, das lediglich linear Prozesse vereinfacht. Mit dem Computer kann ich Dinge, für die ich früher eine Woche gebraucht hätte, innerhalb kürzester Zeit erledigen – und KI ermöglicht nun, dass ich vollautomatisiere. Das bedeutet eine exponenzielle Effizienzsteigerung. Ich kann mit wenigen Leuten das Zehn-, Hundert- oder gar Tausendfache erledigen. Das bedeutet auch, dass ich Mitarbeiter dann in Bereichen einsetzen kann, die sehr wichtig sind, für die es aber bislang überhaupt keine Zeit gab. Wir können uns viel mehr Zeit für Zwischenmenschliches, für soziale Interaktion nehmen, die keine KI und kein Roboter ersetzen kann. Ein Beispiel: Wenn man bestimmte Antragsverfahren in der Verwaltung automatisiert und damit Mitarbeiter von Routineaufgaben wie der Prüfung der Vollständigkeit von Unterlagen entlastet, dann können genau diese Mitarbeiter sich damit beschäftigen, mit den Antragstellern über all das zu sprechen, was jenseits der Routine liegt und sie viel besser beraten. Auch in der Schule könnten Lehrer entlastet werden. Mit KI könnte man das Korrigieren von Tests automatisieren. Dafür könnten Lehrer sich damit beschäftigen, individueller auf die Schüler einzugehen, die entweder etwas lernschwächer oder auch lernstärker sind. Mit der Digitalisierung, gerade mit der KI, können Dinge also so automatisiert werden, dass wir uns insgesamt als Gesellschaft wieder auf die Dinge konzentrieren können, die menschlich sind. Das muss auch eine zentrale Priorität bleiben.
Gesellschaft ist ein gutes Stichwort: Welche Auswirkungen nimmt die Digitalisierung auf unsere Gesellschaft?
Wie bei jeder neuen Technologie muss man sich überlegen, wie man sie positiv einsetzt. Es gibt keine Technologie, die nicht auch ihre Schattenseiten hat. Es liegt am Ende an uns, wie wir was einsetzen. Es kann immer problematische Begleiterscheinungen geben, damit müssen wir umgehen. Aber unterm Strich wird Digitalisierung ganz große Vorteile bringen. Wichtig ist, dass wir immer als Politik und Gesellschaft die Entwicklungen eng begleiten und darüber diskutieren, welches Bild einer Gesellschaft wir wollen und wie dafür moderne Technologien eingesetzt werden sollten. Das merken wir beispielsweise bei Social Media. Natürlich haben die Digitalisierung und die Einfachheit, mit der jeder seine Sicht der Welt transportieren kann, auch dazu geführt, dass wir vermehrt mit sogenannten Fake News zu tun haben. Es gab andererseits schon immer solche Fake News – aber um sie einem größeren Publikum zu präsentieren, musste man es früher zum Beispiel erst in eine Zeitung schaffen. Heute kann jeder, also wirklich jeder, mit wenigen Klicks seine Ideen in die ganze Welt tragen.
Welche Herausforderungen bringt die Digitalisierung sonst noch mit sich?
Wichtig ist, dass Digitalisierung kein Allheilmittel ist und alles lösen kann. Sie ist ein Hilfsmittel. Man muss immer schauen, für was man dieses Hilfsmittel einsetzen kann. Es ist wie ein Hammer: Den kann man nicht für alles einsetzen, aber für bestimmte Zwecke kommt man ohne ihn nicht aus. Das ist die große Herausforderung: Sich wirklich zu überlegen, wofür man diese Technologie einsetzt und wofür man sie nicht einsetzt. Was uns nicht passieren darf, ist: jedes Problem als Nagel zu betrachten, der mit dem Hammer zu bearbeiten ist.
Dass Digitalisierung für das Saarland ein großes Thema ist, zeigen ja auch der Digitalisierungsrat und die Enquetekommission im Landtag. Was erwarten Sie davon?
Die Enquetekommission, die auch angelehnt an die Arbeit der Enquetekommission im Bundestag ist, diskutiert die Herausforderungen auf die Gesellschaft, und wägt die politischen Antworten darauf ab: Welche Auswirkungen hat Digitalisierung auf die Gesellschaft, auf die Gesundheit, die Wirtschaft, die Verwaltung? Das muss in der Breite thematisiert werden und der gesellschaftliche Input muss eingefangen werden, um am Ende auf gewisse Aspekte hinzuweisen, die besonders wichtig sind. Was sind die kritischen Dinge? Worauf muss man achten? Dazu leistet die Enquetekommission einen sehr wichtigen Beitrag. Sie ist hochrangig und fraktionsübergreifend besetzt, denn es ist wichtig, möglichst viele Strömungen aus der Gesellschaft einzubinden. Der Digitalisierungsrat ist ein Beratungsgremium des Ministerpräsidenten, das sich mit der Frage beschäftigt, was wir als Landesregierung tun können, um den Strukturwandel mithilfe der Digitalisierung voranzutreiben. Aber auch, wie wir uns im Wettbewerb gegenüber anderen Regionen abheben können.
Wo möchte das Saarland denn in den kommenden Jahren seine Schwerpunkte setzen?
Die Frage ist zunächst einmal: Wo wollen wir denn in zehn Jahren sein? Die Frage ist insbesondere deswegen wichtig, weil wir auch in der Politik oft dazu verleitet sind, tagesaktuelle Fragen in den Vordergrund zu stellen. Wichtige strategische Fragen, die aber nicht so zeitkritisch erscheinen, rutschen dann weiter nach hinten. Deswegen hat Ministerpräsident Tobias Hans sehr früh entschieden, dass wir das hier im Saarland anders machen wollen. Wir wollen uns damit beschäftigen, wie die langfristige Perspektive dieses Landes aussehen soll. Das ist eine Entwicklung, die man übrigens nach und nach auch in anderen Bundesländern und im Bund beobachten kann. Wie ist die langfristige Perspektive für das Land, welche Vision haben wir für das Land und die Menschen? Und: Welche Ziele müssen wir uns setzen, damit wir diese erreichen. Diese Fragen sind der Kern unseres Strategie-Prozesses „Saarland 2030". Dabei geht es um die Frage was wir tun müssen, damit wir in zehn Jahren den Menschen hier dauerhaft gleichwertige Lebensverhältnisse aus eigener Kraft bieten können. Dazu gehört eben auch die Frage, welche Entwicklungen die Zukunft dominieren werden. Wir können uns im Wettbewerb nur dann erfolgreich von anderen abheben, wenn wir exzellent sind. Menschen kommen nur dann zu uns, wenn wir Dinge besser machen und nicht, wenn wir nur genauso gut wie andere sind. Das können wir nicht überall, deshalb müssen wir Schwerpunkte setzen. Und zwar dort, wo wir schon vielversprechende Ausgangsbedingungen und Zukunftschancen haben und wo wir nicht erst eine Aufholjagd gewinnen müssen. Das sind insbesondere die Bereiche Cybersicherheit, Künstliche Intelligenz, aber beispielsweise auch Life Sciences, Smart Mobility und Smart Industry.