Üppig dekorierte Kirchen und prächtige Klöster: Zwischen Ulm und Bodensee verläuft die Oberschwäbische Barockstraße. Hier reist man durch eine vergoldete Kulturlandschaft mit unzähligen Engelsfiguren und weltberühmten Orgeln – ein Genuss für Auge und Ohr.
Wer auf den Bussen steigt, sieht eine Kulturlandschaft wie aus dem Bilderbuch. Es ist ein froschgrün-schokoladenschwarzes Mosaik aus feuchten Wiesen und fruchtbaren Feldern, gespickt mit Rapsgelb und Weizenbraun. Kornblumenblaue Tupfer liegen dazwischen: mal sind es von Eiszeitgletschern geformte Seen, mal von Mönchshänden aufgestaute Teiche. Zwiebelkirchtürme überragen die Dörfer, auf den Dächern haben klappernde Störche ihre Nester gebaut. Am fernen Horizont schimmern mit ihren Kronen aus Schnee die Gipfel der Alpen.
Im Bussen, einem heiligen Berg, auf den angeblich bereits die Kelten für ihre Fruchtbarkeitsrituale pilgerten – und heute noch das eine oder andere Paar in der Hoffnung auf ein „Bussakindle" – soll sich ein Schatz befinden. Den kann indes nur heben, wer um Mitternacht durch einen Geheimgang ins Innere absteigt und dort nicht nur ein altes Weib, sondern zudem noch einen feuerspeienden Pudel und eine goldene Schlange schachmatt setzt. Das klingt ziemlich kompliziert, weshalb alle Helden an dieser Aufgabe bislang gescheitert sind. Für alle, die ein Auge für Schönheit haben, liegt der wahre Schatz des Bussen ohnehin nicht im Gestein verborgen, sondern vielmehr zu seinen Füßen: Oberschwaben, Baden-Württembergs traditionsreicher Landstrich zwischen Alb, Donau und Bodensee.
Ein hochgewachsener Mann mit Fernglas um den Hals steht im Schilfmeer am Rande des Federsees. Die Halme können bis zu vier Meter hoch werden und überragen ihn deswegen deutlich. „Unsere Kulturlandschaft wirkt oft wie eine Bilderbuchidylle. Ich liebe aber auch die Orte, an denen Oberschwaben noch wirklich wild ist – so wie hier", sagt Jost Einstein. Dann beginnt er, auf dem federnden Boden zu hüpfen. „Das ist wie ein Trampolin", ruft er mit einer Begeisterung, die auf alle Teilnehmer seiner Tour ansteckend wirkt. „Doch Vorsicht: Wenn man nicht aufpasst, steckt man bis zur Hüfte im Schlamm!"
Bad Buchau ist für seine Heilbäder bekannt
Jost Einstein ist im Schatten des Bussen aufgewachsen, im kleinen Kurort Bad Buchau, beliebt für seine Heilbäder und die Therme. Lange Jahre war er hier Leiter des Nabu-Naturschutzzentrums Federsee. Bei 400 Führungen im Jahr informiert sein Team über das besondere Feuchtgebiet. „Wir haben hier ein Naturjuwel: Das größte Moor im Südwesten und der zweitgrößte See Baden-Württembergs sind der Lebensraum einer einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt."
Hier blüht das Karlszepter, das auf den Spitznamen Moorkönig hört: Die extrem seltene Pflanze ist ein Relikt der Eiszeit. Auf den feuchten Streuwiesen sprießen zehn verschiedene Orchideen. 50 Schmetterlings- und 500 Nachtfalterarten wurden gezählt. Im Sommer flattern Fledermäuse durch einen seit 100 Jahren nicht mehr bewirtschafteten Moorwald. Zwei Drittel aller Rohrweihen des Landes brüten hier, dazu über 200 Paare der gefährdeten Braunkehlchen – insgesamt wurden 266 Vogelarten nachgewiesen. Auch für Archäologen ist der Federsee eine Schatztruhe: In keinem anderen Moor Mitteleuropas wurden so viele Relikte aus der Bronzezeit gefunden wie hier. Die Spuren der 4.000 Jahre alten Pfahlbauten zählen zum Unesco-Welterbe.
Die durch ein populäres Volkslied verewigte „Schwäbsche’ Eisebahne" wurde früher mit Torf vom Federsee beheizt. Das ist Geschichte, doch noch heute lässt sich die Region wie in alten Zeiten erkunden: Mit dem „Öchsle", einer von einem Team an Freiwilligen betriebenen Museums-Schmalspurbahn. Im Sommer und in der Weihnachtszeit zischen und ruckeln also Dampfloks über die Strecke von Warthausen bei Biberach nach Ochsenhausen. Wer einsteigt und sich den Wind um die Nase wehen lässt, fährt mitten hinein in die Wunderwelt des Barock.
Prächtig wie ein Schloss thront die ehemalige Benediktinerabtei über der Stadt Ochsenhausen. Die Klosterkirche ist eine Sinfonie für die Augen: Alles ist hier prachtvoll und üppig dekoriert, um Macht zu demonstrieren und die Gläubigen mit Opulenz und Prunk zu ergreifen. Das Deckenbild öffnet den Raum nach oben und verbindet das Diesseits mit dem Jenseits. So viele Engel bevölkern das Haus, dass man sie kaum zählen kann. Die unterm Dach spielen ein Instrument. Denn auch die Musik kommt von ganz oben, scheinbar direkt aus dem Paradies.
Federsee ist Schatztruhe für Archäologen
„Die Kirche zu betreten und dann die Orgel zu hören: Das muss für die Menschen im 18. Jahrhundert so bombastisch gewirkt haben wie heute ein Rockkonzert mit Lichtshow und Pyrotechnik", sinniert Ulrich Werther. „Sie hatten den Eindruck, direkt in den Himmel sehen zu können und dort die Engel musizieren zu hören." Der Organist hat das Privileg, inmitten dieses himmlischen Orchesters sitzen und die Orgel von Joseph Gabler spielen zu dürfen: Der in Ochsenhausen geborene Meister gilt als einer der bedeutendsten barocken Orgelbauer. Für seinen Heimatort hat sich der Meister eine nette Spielerei einfallen lassen: Zieht Ulrich Werther ein bestimmtes Register, fährt die Figur eines Ochsen aus dem Orgelaufbau heraus. Noch opulenter geriet seine Arbeit für die Basilika zu Weingarten: Sie zählt zu den berühmtesten Orgeln in Deutschland. Fast 7.000 Pfeifen hat er für sein Meisterstück verbaut – manche ähneln sogar täuschend echt dem Gesang einer menschlichen Stimme. Für den Bau dieser „Vox humana" soll der Orgelbaumeister einen Bund mit dem Teufel eingegangen sein, der ihm Hilfe versprach, im Tausch gegen seine Seele. Doch weil die Orgel so schön klang, als sei sie nicht von dieser Welt, verzieh ihm der Abt.
Prunkvolle Klosterbibliothek
Die prunkvolle Klosterbibliothek von Bad Schussenried, die zauberhaft schöne Dorfkirche von Steinhausen: Die Pracht des Barock hat sich in Oberschwaben vielerorts erhalten. Üppig war einst – für alle, die es sich leisten konnten – auch das Essen. Heute kommen die Festmahlzeiten des Barock wieder auf den Tisch. Es gibt allerlei gehaltvolle Suppen und Braten, dazu üppige Mehlspeisen mit Rahm und Käse, lokal gebrautes Bier – und zum Nachtisch Nonnenfürzle. Keine Angst: Im Höllenfeuer muss nicht schmoren, wer erst den respektlosen Namen und dann das Brandteiggebäck selbst in den Mund nimmt. Ein Oberschwabe hat nämlich in der Regel zwei Seelen. Und nur eine davon wohnt in seiner Brust.
Die andere bestreicht er traditionell zentimeterdick mit Butter. Die ursprünglich nur aus Dinkelmehl gebackenen und mit Kümmel bestreuten Seelen sind eine oberschwäbische Spezialität. Das bekannteste Exportprodukt der Region sind allerdings die Maultaschen. Angeblich wurden sie einst von Mönchen erfunden, um die Restriktionen der Fastenzeit zu umgehen. Weil in den Nudeltaschen oft Fleisch versteckt ist, werden sie spöttisch „Herrgottsbscheißerle" genannt.
Solch eine genussfreudige Landschaft prägt. Deswegen ticken viele Menschen im katholischen Oberschwaben bis heute ein wenig anders als im protestantischen Unterland, wo die Neckarschwaben angeblich emsig und nüchtern mit großer Sittenstrenge leben. So urteilte jedenfalls der legendäre Wortakrobatiker Thaddäus Troll, Autor der Stammesfibel „Deutschland deine Schwaben".
Als Stuttgarter saß er zwar im Glashaus, hielt seinen Landsleuten aber trotzdem mit Gedichten und Essays den Spiegel vor. „Die Oberschwaben sind heiterer, musischer, geselliger. Sie haben etwas übrig für das Unnütze, Spielerische, Komische." An den Karren fährt er ihnen trotzdem, wenn auch mit einem Augenzwinkern: „Beim Heiraten sieht der Neckarschwabe mehr auf die Mitgift, der Oberschwabe auf die äußere Erscheinung der Braut."
Oberschwaben fiel erst im 19. Jahrhundert ans Königreich Württemberg. Dessen Beamte hatten Mühe mit der Disziplinierung der feierlustigen Untertanen. Sogar die „Fasnet" versuchten die neuen Herren zu verbieten. Damit waren sie schlecht beraten: Kein Ritual ist hier wichtiger. Zwischen „Schmutzigem Donnerstag" und Aschermittwoch ist die Region im Ausnahmezustand. Da befreien die Narren Kinder aus den Schulen und setzen die Bürgermeister ab. Die konservativen Oberschwaben sind manchmal eben auch ziemlich rebellisch.