Wachstum trotz Wirtschaftskrise? Jedes Jahr untersucht die Uni Mannheim den Direktvertriebsmarkt in Deutschland. In Zeiten der Pandemie könnte der Markt weiter wachsen und eine Alternative für Arbeitslose bieten, sagt Studienleiter Prof. Dr. Florian Kraus vom Lehrstuhl für Vertrieb und Dienstleistungsmarketing.
Herr Prof. Kraus, wirtschaftlich erleben wir derzeit ein Desaster. Wie steht es um den Direktvertrieb?
Wirtschaftlich belastbare Zahlen liegen derzeit noch nicht vor, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf den Direktvertrieb hat. Aber es gibt zwei Hypothesen: Die Vermutung liegt nahe, dass der Multikanalvertrieb, sprich Online-Shops und Social Media Selling, nochmals deutlich an Bedeutung gewinnt. Die andere Hypothese wäre, dass Unternehmen, die diesbezüglich bereits gut aufgestellt sind, wahrscheinlich weniger stark von der Corona-Krise betroffen sind, als Unternehmen, die keinerlei Mehrkanalvertrieb verfolgen.
Woran lag es, dass das Wachstum der Branche 2018 deutlich unter einem Prozent lag?
Der Gesamtumsatz der Direktvertriebsbranche in Deutschland lag 2018 bei 17,66 Milliarden Euro. Allerdings fiel erstmals seit zehn Jahren das Wachstum mit 0,23 Prozent sehr gering aus. Im Wesentlichen gibt es dafür zwei Gründe. Zum einen hat in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Direktvertriebsunternehmen in den Multikanalvertrieb investiert, allen voran in den Aufbau von Online-shops oder in so genannte Flagship-Stores. Das hat sich 2018 bei den Investitionen bemerkbar gemacht. Zum anderen verhält sich die Direktvertriebsbranche antizyklisch. In konjunkturell guten Zeiten mit hoher Beschäftigung fällt die Nachfrage nach Jobs im Direktvertrieb geringer aus. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sehen viele Menschen im Direktvertrieb eine gute Gelegenheit, Geld hinzuzuverdienen. In konjunkturell schwierigen Zeiten stellen Unternehmen weniger Personal ein und es ist schwerer, eine feste Stelle zu bekommen. Klassisches Beispiel für dieses antizyklische Verhalten ist übrigens Südeuropa mit Spanien und Portugal.
Die Arbeitslosigkeit wird durch die Corona-Krise zunehmen. Wieso könnte der Direktvertrieb für viele Menschen eine echte Alternative bieten?
Vereinfacht ausgedrückt: Jeder kann im Prinzip Direktvertrieb und zu jeder Zeit einfach einsteigen. Man braucht keine formale Qualifikation wie Zeugnisse, Berufsabschluss und so weiter. Man muss verkaufen und begeistern können, Spaß und Freude mitbringen und sich mit dem Produkt beziehungsweise Unternehmen identifizieren. Die Vertriebspartner arbeiten selbstständig, das heißt sie bestimmen selbst, wann und wie viel sie arbeiten. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass rund ein Drittel der Vertriebspartner in Teilzeit arbeitet. Es ist eine gute Möglichkeit, Geld flexibel, sprich bei freier Zeiteinteilung, hinzuzuverdienen. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Anerkennung, die einem bei Erfolg zuteil wird. Außerdem können Vertriebspartner jederzeit aussteigen, wenn sie wieder in Festanstellung oder etwas ganz anderes machen wollen. Deshalb steht dem Direktvertrieb theoretisch ein sehr großes Potential an Arbeitskräften zur Verfügung. Weit über 50 Prozent der befragten Unternehmen sehen eine wachsende Bedeutung des Direktvertriebs in den nächsten Jahren.
Machen Internet und soziale Netzwerke dem Direktvertrieb Konkurrenz?
Ich würde das Internet mit Online-Shops und soziale Netzwerke eher als Ergänzung betrachten und weniger als Konkurrenz. Rund 70 Prozent der Direktvertriebsunternehmen fahren mehrgleisig und bauen zusätzliche Vertriebswege auf. Damit erschließen sich die Unternehmen neue Kundensegmente vor allem unter den jüngeren Kundengruppen, also den vermeintlich internetaffineren Zielgruppen. Aber auch Kunden, die häufig im Internet kaufen, wollen beim Einkaufen etwas „erleben". Die emotionale Komponente wird immer eine große Rolle spielen. Zum Direktverkauf gehören der persönliche Kontakt mit dem Verkäufer, der Vorführeffekt des Produkts, die Atmosphäre, das Zusammengehörigkeitsgefühl, wenn Sie mit Freunden beispielsweise an einer Verkaufsparty teilnehmen, die Möglichkeit des Handelns bei Preisen, all das gehört zum Verkaufen dazu. Rein Internet affine Menschen sind durchaus für Verkaufserlebnisse auf Partys zu begeistern. Hier muss man natürlich abwarten, wie sich das aufgrund der Corona-Krise entwickelt. Ich sehe zwischen den beiden Polen Online-Shops und Direktvertrieb einen ganz anderen klassischen Vertriebsweg in Gefahr.
Der da wäre?
Der klassische Einzelhandel dürfte es in Zukunft schwerer haben. Es sitzt quasi zwischen Baum und Borke, wenn er nicht auf der Klaviatur des Multikanalvertriebs spielt. Der klassische Einzelhandel wird bei der heutigen Produktvielfalt wohl kaum so detailliert in die Tiefe gehen wie der Online-Handel es kann. Gleiches gilt für die Erlebbarkeit der Produkte wie Spaßfaktor beim Direktvertrieb. Das wäre für den Einzelhandel in der Regel alles viel zu kostspielig.
Auf der anderen Seite brauchen die Innenstädte einen lebhaften Einzelhandel, sonst sind die Städte tot. Man darf gespannt sein, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt, vor allem auch wegen der Corona-Krise.
Warum ist Deutschland ein gutes Pflaster für den Direktvertrieb?
Deutschland ist und bleibt ein lukrativer Markt. Wir sind wirtschaftlich hochentwickelt, verfügen über eine gute Infrastruktur und im Durchschnitt über hohe Einkommen. Entscheidend wird natürlich auch sein, wie wir durch die Krise kommen.
Viele Produkte des Direktvertriebs sind nicht so hochpreisig. Außerdem kann man ähnliche Produkte im klassischen Handel käuflich erwerben. Gibt es bereits Anzeichen, dass sehr teure und hochwertige Produkte und Dienstleistungen per Direktvertrieb zu erwerben sind?
Das würde ich so nicht sagen. Zwar machen Kosmetik- und Wellnessartikel, Reinigungsprodukte, Bekleidung, Spielzeug, Tierfutter den größten Anteil in der Direktvertriebsbranche aus. Aber es gibt auch eine große Anzahl von Bauprodukten oder Haushaltsgeräten. Da können schon mal 2.000 Euro für ein Produkt oder ein Produktset zusammenkommen. Im Prinzip gibt es nichts, was der Direktvertrieb nicht verkaufen könnte.
Das scheinen andere Branchen wie die Automobilbranche zu entdecken. Wie groß ist die Gefahr, dass beispielsweise die Zwischenhändler übergangen werden könnten?
Es dürfte wohl kaum eine Branche geben, die nicht über den Direktvertrieb nachdenkt oder bereits nachgedacht hat. Die Automobilbranche gehört dazu. Einen Tesla beispielsweise können Sie nur online bestellen. Das ist anders gar nicht möglich. Die sind aber auch ganz neu am Markt und haben mit den klassischen Bereichen wie Service und Probefahrten, Ersatzteil-Business, Batterietausch, Gebrauchtwagenmarkt, Gewährleistung et cetera noch wenig Erfahrung. Dass die ersteller ihre Autos direkt an die Kunden verkaufen und die Autohäuser als Händler umgehen, sehe ich derzeit nicht. Die Autohäuser haben letztendlich die Kundendaten, das Kundenwissen und sie managen das lukrative Ersatzteil-Business. Einfach mal den Kunden so direkt anzugehen und dahinter das große Geschäft zu wittern, so trivial dürfte es in der Praxis nicht funktionieren. Dafür sind die gewachsenen Vertriebswege in der Automobilbranche über den Zwischenhändler zu komplex.