In der vergangenen Saison war der Meistertitel das Ziel von Borussia Dortmund, in diesem Jahr ist die Formulierung zurückhaltender. Ein Titel soll es sein – egal welcher. Das Potenzial des BVB ist riesengroß – das liegt vor allem an der Fülle vorhandener Talente.
Mit den formulierten Saisonzielen der Dortmunder Verantwortlichen aus den vergangenen Jahren könnten sicher einige Seiten gefüllt werden. Mal gab es gar keine, dann gab es die vollmundige Aussage, unbedingt Meister zu werden. Und vor eineinhalb Jahren, da hakte Trainer Lucien Favre den Meistertitel drei Spieltage vor Schluss bei noch drei ausstehenden Spielen einfach mal ab. Vor wenigen Tagen, kurz vor Beginn der neuen Runde, sprach Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke eine neue Lösung für dieses Problem an: „Wir werden kein offizielles Ziel mehr ausgeben – und das geschieht nicht, weil wir keines haben." Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass vergangene Bruchlandungen vermieden werden sollen – der BVB aber trotzdem weiterhin alles will. Während dieses Unterfangen durchaus kompliziert daherkommt, ist die Philosophie klarer und besser definiert. Borussia Dortmund setzt noch mehr als sonst auf talentierte und entwicklungsfähige Profis – das hat sich bewährt und soll so fortgeführt werden – in dieser Spielzeit so konsequent wie nie zuvor. Und neben diesen jungen Wilden gibt es ein Gerüst aus erfahrenen Kräften, die die Talente führen sollen.
Ein wichtiger Baustein dabei ist auch Marco Reus, der in der ersten DFB-Pokalrunde seinen glücklichsten fußballerischen Moment der vergangenen 222 Tage erleben durfte. Nach nur drei Sekunden Spielzeit erzielte er nach langer Leidenszeit sein Tor. Doch viel wichtiger für das Teamgefüge des BVB waren die Sekunden, bevor das Spiel nach seiner Einwechslung angepfiffen wurde. Mats Hummels lief zu Reus und überreichte ihm symbolisch die Binde – der Kapitän ist zurück. Denn nach einem halben Jahr erneuter Verletzungspause wurden Stimmen laut, ob Marco Reus wieder an seine Topform anknüpfen kann. Dabei ging es eher um die Frage, dass nur ein anwesender Anführer sein Team auch führen kann. Dementsprechend versuchen auch die Verantwortlichen, ihrem Kapitän den Rücken zu stärken. „Marco ist und bleibt unser Kapitän. Das ist selbstverständlich", erklärte noch vor Kurzem Sportdirektor Michael Zorc.
Inmerhalb der Mannschaft stand das sowieso nie infrage. Reus ist unumstritten. Machtverschiebungen innerhalb des Teams gibt es trotzdem. Lukas Pisczek, der nach dieser Saison seine Karriere beenden wird, machte seinen Platz im Mannschaftsrat frei und trat als zweiter Kapitän zurück, um den jüngeren Spielern die Chance zu geben, mehr Verantwortung zu übernehmen. Dadurch rückt Hummels im internen Ranking auf, Thomas Delaney steigt in den Mannschaftsrat auf und komplettiert mit Axel Witsel das Quartett. Im Standing in der Mannschaft folgen danach Winter-Neuzugang und Nationalspieler Emre Can sowie Keeper Roman Bürki, der in der vergangenen Saison immer wieder mit deutlichen Worten und Kritik an der Mannschaft aufgefallen war.
Watzke will kein offizielles Ziel mehr ausgeben
Diese Führungsspieler sind wichtig und auch absolut notwendig, wenn der Rest der Mannschaft so jung, wie die des BVB daherkommt. Die Liste der hochbegabten Dortmunder Spieler ist lang: Stürmer Erling Haaland und Supertalent Jadon Sancho, die beide erst 20 Jahre alt sind, stehen dort an der Spitze. Matheu Morey, auch 20 Jahre alt, war lange von Verletzungen ausgebremst und will nun auf der rechten Seite endgültig angreifen.
Gegen die anderen Jungspunde wirken diese drei fast schon alt. Giovanni Reyna ist wie Neuzugang Jude Bellingham, der für 26,5 Millionen von Birmingham City verpflichtet wurde, erst 17 Jahre alt. Alle vier standen in der ersten DFB-Pokalrunde von Beginn an auf dem Platz, alle trafen auch – bis auf Haaland, der teilweise ein wenig zu statisch in der Hochgeschwindigkeitsoffensive spielte. Der Brasilianer Reinier, der für zwei Jahre von Real Madrid ausgeliehen wird, hat auch erst 18 Jahre auf dem Buckel. Der jüngste von allen, ist Youssoufa Moukoko. Mit gerade einmal 15 Jahren hat er sämtliche Torrekorde in den Jugend-Bundesligen pulverisiert und trainiert nun auch schon mit den Profis mit. Ab November, wenn er dann 16 Jahre alt ist, kann er auch in der Fußball-Bundesliga eingesetzt werden. „Insbesondere bei Youssoufa Moukoko sind wir der Meinung, dass er auch schon so weit ist, dass er richtiges Kader-Mitglied werden soll", sagt Sportdirektor Michael Zorc bei BVB-TV. Favre hat der junge Stürmer schon vollends überzeugt, es ist durchaus wahrscheinlich, dass er schon kurz nach seinem 16. Geburtstag auf dem Platz stehen wird. „Du weißt nicht, mit welchem Fuß er spielt. Er ist Linksfuß, er ist Rechtsfuß. Er ist sehr, sehr effizient. Es macht Spaß, ihn zu trainieren", schwärmt Favre. Schwieriger dürfte es für Ansgar Knauff und Nnmadi Collins werden. Sie wurden in der Vorbereitung an die Profis herangeführt, für mehr wird es aber in dieser Saison erst mal nicht reichen. Talent Immanuel Pherai ist mittlerweile sogar für eine Saison an den niederländischen Erstligisten PEC Zwolle verliehen.
Favre schwärmt vom erst 15-jährigen Moukoko
Von den jungen Wilden standen im Spiel beim MSV Duisburg zwei in zentralen Rollen auf dem Platz. Reyna und Bellingham bildeten die offensive Zentrale – mit gerade einmal 17 Jahren. Bellingham musste dann in der Halbzeit runter und zwar nur, weil er sich wegen Ballwegschlagens eine Gelbe Karte eingehandelt hatte, was seinem Trainer absolut nicht gefiel. Leistungsgründe konnten es nicht sein. Er spielte selbstbewusst und schoss sein erstes Pflichtspieltor für den BVB. Für Sportchef Michael Zorc war das keine Überraschung: „Er ist schon sehr früh sehr weit. Wir sind schon über zwei Jahre an ihm dran. Er ist uns sehr früh aufgefallen bei den Spielen der englischen U-Nationalmannschaft". Auch sein Trainer lobte ihn, jedoch nicht ,ohne den Finger mahnend zu heben: „Wir sehen es an Serge Gnabry: Er war bei Arsenal, dann bei Hoffenheim und in Bremen", sagt Favre und nimmt den deutschen Nationalspieler als Beispiel. „Er war okay, aber nicht so gut wie jetzt. Peu à peu hat er Vertrauen gewonnen und verstanden: Er muss ein Profi sein." Einer der jungen, der das schon ein wenig verinnerlicht hat, ist sein Partner aus der Zentrale. Reyna stand vergangene Saison 18-mal für die Profis auf dem Rasen, zeigte starke Leistungen und machte mit schönen Toren auf sich aufmerksam.
Die Altersstruktur vor allem in der Offensive ist von den Verantwortlichen aber so gewollt: „Natürlich ist es im vorderen Bereich manchmal einfacher, die Jugend reinzubringen. Da ist jugendlicher Wagemut auch gesucht und gewünscht. Aber wir haben in Zagadou und Morey auch junge Abwehrspieler mit sehr hoher Qualität", äußert sich Michael Zorc gegenüber dem „Kicker" und stellt klar: „Das kann in Zukunft auch wieder anders aussehen."
Gerhard Poschner, ehemaliger Profi des BVB und des VfB Stuttgart und heute als Leiter mehrerer Spielerberateragenturen bestens vernetzt in der Szene, sagt, dass Borussia Dortmund wie kaum ein zweiter europäischer Club dafür stehe, jungen, entwicklungsfähigen Toptalenten ein Sprungbrett zu bieten. Es ist ein Sprungbrett auch mit der Aussicht auf viele Startelfeinsätze bei einem Spitzenverein in einer der besten europäischen Ligen. Und, fast noch wichtiger, auf Startelfeinsätze in der Champions League. „Jeder Verein braucht etwas, wofür er steht, und beim BVB ist das der Fokus auf diese jungen Toptalente", sagt er. Poschners Blick bei dieser speziellen Dortmunder Nachwuchsgeschichte geht dabei recht weit zurück. Vom Jahr 2005 an, als der BVB fast insolvent war und sich unter der Aufsicht des Chefsanierers Watzke nur langsam erholte, sei der Verein mit Blick auf die angespannten Finanzen gezwungen gewesen, auf junge, entwicklungsfähige Profis zu setzen. Irgendwann kommt dann auch der Tag, an dem diese Talente den Verein wieder verlassen, denn deshalb gehen viele junge Spieler eben zum BVB – um sich weiterzuentwickeln und dann zu einem großen Club zu wechseln. Bis dahin, bringt es Thomas Delaney auf den Punkt, wie er sich manchmal in Training und Spielen fühlt: „Es ist manchmal, als würde man mit zehn Hunden Gassi gehen." Für den BVB gilt es, das gesamte Potenzial aus dem Rudel herauszuholen. Dann ist in dieser Saison einiges möglich.