69 Tage lang waren 33 Bergleute in einer chilenischen Gold- und Kupfermine eingeschlossen. Am 13. Oktober 2010 wurden sie gerettet und erreichten wohlbehalten wieder die Oberfläche. Nie zuvor waren Menschen länger unter Tage gefangen.
Das erste Lebenszeichen kam in Form einer Plastiktüte. Die Bergleute hatten sie mit Klebeband an der Spitze des Bohrers befestigt, der nach 17 Tagen bangen Wartens endlich bis zu ihnen vorgedrungen war. Darin: ein Zettel mit sieben Worten – „Uns 33 geht es im Schutzraum gut“. Chiles Präsident Sebastián Piñera höchstpersönlich hielt das kleine zerknitterte Stückchen Papier in die Kameras und erklärte enthusiastisch: „Heute weint ganz Chile vor Freude und Ergriffenheit.“ Es sollte allerdings noch weitere sieben Wochen dauern, ehe die 33 eingeschlossenen Bergmänner gerettet wurden. Am 13. Oktober 2010 um kurz nach Mitternacht erreichte mit Florencio Avalos der Erste der Verschütteten wieder wohlbehalten die Oberfläche.
69 Tage waren er und die anderen Kumpel in 700 Meter Tiefe eingeschlossen. Nie zuvor war ein Mensch länger unter Tage gefangen – der vorherige Rekord waren 25 Tage. Trotzdem hatten die Männer die Zeit scheinbar unversehrt überstanden. Entsprechend groß war die Erleichterung, als Avalos um 0.11 Uhr als Erster der Rettungskapsel entstieg. „Chi, Chi, Chi, Le, Le, Le!“ hallte es durch die Nacht, der Schlachtruf der chilenischen Fußballfans. Bloß dass es dieses Mal eben kein Tor zu feiern gab, sondern ein wahres Wunder. „Unser erster Bergarbeiter ist bei uns. Das hat den chilenischen Traum erfüllt“, sagte Präsident Piñera.
Rettungsschacht hatte keinen Aufzug
Dabei hatte er am 5. August mit dem Albtraum aller Bergleute angefangen. Infolge eines Bergschlags war die kleine Gold- und Kupfermine San José am Rand von Copiapo in der Atacama-Wüste, etwa 850 Kilometer nördlich der Hauptstadt Santiago, eingestürzt. „20 Minuten vor 14 Uhr brach der Berg zusammen“, berichtete später der Schichtleiter Luis Urzúa. „Wir waren besorgt wegen der Kumpel, die gerade mit einem beladenen Lastwagen hinausfuhren; hinterher kam die Staubwolke, und ungefähr vier oder fünf Stunden lang konnten wir nicht sehen, was los war, in welcher Lage wir uns befanden. Dann sahen wir, dass wir gefangen waren, durch einen riesigen Felsen im ganzen Durchgang der Strecke.“ Eigentlich hätten sie in solch einem Fall durch einen Rettungsschacht fliehen sollen, doch die Bergwerksgesellschaft hatte nach einem ersten Unglück im Jahr 2007 darauf verzichtet, diesen mit Fahrten ( In einem Schacht zum Ein-und Aussteigen angebrachte Leiter, An.d.Red.) auszurüsten. Vergeblich stiegen die Bergleute 400 Meter bis zur 235-Meter-Sohle nach oben, ehe sie aufgrund einer fehlenden Rettungsleiter nicht mehr weiterkamen.
Erst im Februar 2010 war Chile von einem schweren Erdbeben mit 521 Toten und 200.000 Obdachlosen erschüttert worden. Nun drohte ein halbes Jahr später die nächste nationale Tragödie. Doch die Verschütteten gaben so schnell nicht auf. Die Gruppe zog sich in einen Schutzraum zurück, wo es genügend Platz und Sauerstoff für alle gab. Sie organisierten sich und richteten eine Gebetsecke ein. Täglich kamen sie zusammen, um das Leben unter Tage gemeinschaftlich abzustimmen – jeder hatte dabei seine genau festgelegte Aufgabe.
Psychologen sahen in diesen klaren Zuständigkeiten später einen wichtigen Grund, weshalb die Männer die lange Zeit unter der Erde ohne Lagerkoller überstanden. Als Verpflegung diente ihnen das mitgebrachte Essen: Fischbüchsen, Pfirsichkonserven, Milch und Kekse. Einen Löffel Fisch, einen halben Keks und eine halbe Tasse Milch bekam jeder der Eingeschlossenen pro 48 Stunden.
Während die Überlebenden unter Tage bei Temperaturen bis 36 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent auf ihre Rettung warteten, wurden über der Erde die Sucharbeiten eingeleitet. An insgesamt neun verschiedenen Stellen wurden in den nächsten Tagen Suchbohrungen angesetzt, die jedoch zunächst alle ins Leere führten. Erschwert wurden die Arbeiten auch dadurch, dass das Gebirge von zahlreichen Rissen unbekannter Lage durchzogen war. Erst am 22. August, nach 17 Tagen, bemerkte einer der Bohrarbeiter, dass seine Bohrmaschine einen Hohlraum erreicht hatte – es war eben jener Schutzraum, in den sich die verschütteten Bergleute zurückgezogen hatten. Als die Arbeiter die Maschinen ausstellten und dreimal laut auf den Bohrer schlugen, kam aus der Tiefe eine prompte Antwort und damit die Erkenntnis: Die Männer lebten! Spätestens, als mit dem Hochziehen des Bohrers auch der Zettel an der Oberfläche auftauchte, war klar, dass alle 33 wohlauf waren.
Binnen 22 Stunden alle gerettet
Es folgten weitere Bohrungen, um die Eingeschlossenen mit Lebensmitteln und einer Glukose-Trinklösung zu versorgen. Einige von ihnen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits acht bis neun Kilo an Gewicht verloren. Um die Luftqualität im Schutzraum zu verbessern, wurde zudem mit Sauerstoff angereicherte Luft eingeblasen. Ein besonderes Festmahl bekamen die Männer zum Nationalfeiertag serviert, als man ihnen unten im Berg Empanadas, also Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen, sowie das als Asado bekannte Fleisch vom Holzkohlegrill kredenzte. An diesem Tag schmückten sie ihre Höhle sogar mit Girlanden und Flaggen und sangen die Nationalhymne.
An einem anderen Tag gab es als Ablenkung das Fußballländerspiel Chile gegen die Ukraine – die Helfer schickten dafür extra einen Projektor und eine Leinwand in die Tiefe. Außerdem wurden Minikameras hinabgelassen, mit denen die Bergleute ihren Alltag mit teils großeml Humor dokumentierten. Sie konnten inzwischen auch mit ihren Angehörigen telefonieren. Auf diese Weise erfuhr zum Beispiel Ariel Ticona, dass seine Frau in seiner Abwesenheit ein kerngesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte. Gemeinsam gaben sie dem Kind den Namen Esperanza – die Hoffnung.
Den gleichen Namen trug auch das Zeltlager an der Unglücksstelle, in denen Angehörige und Helfer über Wochen hinweg ausharrten. Und nicht nur sie: Aus aller Welt strömten rund 1.700 Journalisten nach Copiapo, die von dort live über jede neue Entwicklung an der Mine berichteten. Die weltweite Anteilnahme war enorm. „Das ist ein Märchen, das weitergeht“, sagte der chilenische Kommunikationswissenschaftler Mauricio Tolosa, „eine Geschichte, die alle Elemente eines epischen Romans bietet.“
Das letzte Kapitel begann am 13. Oktober, nachdem man zuvor noch davon ausgegangen war, dass die Bergmänner womöglich sogar noch bis Weihnachten in ihrem unterirdischen Gefängnis ausharren müssten. Doch die Arbeiten gingen schneller voran als erwartet. Inzwischen war das Bohrloch derart verbreitert worden, dass es die für den Einsatz der Rettungskapsel nötige Breite von 66 Zentimeter erreichte. Die Kapsel namens „Phönix 2“ war gemeinsam mit der US-Raumfahrtbehörde Nasa entwickelt worden. Es handelte es sich um eine größere Version der sogenannten Dahlbuschbombe – einen zigarrenförmigen Behälter, in den die Bergleute hineinkletterten. Diese Methode kam erstmals 1955 bei einem Grubenunglück in Gelsenkirchen sowie später auch beim größten deutschen Grubenunglück in Lengede zum Einsatz.
Bis heute keine Entschädigung
Innerhalb von knapp 22 Stunden wurden die Bergleute am 13. Oktober ans Tageslicht geholt. Als Letzter verließ ihr Anführer Luis Urzúa den Schutzraum, der ihnen mehr als drei Monate als Unterkunft gedient hatte. Im ganzen Land heulten vor Freude die Sirenen, Autos hupten, Menschen tanzten, Luftballons in den chilenischen Nationalfarben Rot, Weiß und Blau stiegen in den Himmel. Die Männer, die so lange ausgeharrt hatten, wurden als Helden gefeiert. Einige besuchten den Papst und das Heilige Land, andere tanzten in Disney World mit Mickey Mouse oder traten wie Edison Peña als Elvis-Presley-Imitator in der Late-Night-Show von US-Talkmaster David Letterman auf.
Doch als der Rummel abebbte, wurde deutlich, dass das unerwünschte Erlebnis unter Tage bei vielen von ihnen doch Spuren hinterlassen hatte. Es gab Berichte über Panikattacken, Alkoholmissbrauch und Spannungen in den Familien. Einer der Bergleute, Mario Sepulveda, meinte gar: „Wenn ich an die schönen Augenblicke zurückdenke, die wir erlebt haben, und an die Menschen, die ich lieben lernte, würde ich lieber wieder dort sein.“ Auf eine angemessene Entschädigung warten die Bergmänner bis heute. Lediglich 14 von ihnen, die danach nicht mehr arbeiten konnten, bekamen später eine staatliche Sonderrente von rund 370 Euro pro Monat zugesprochen. Für den Eigentümer der Mine, die Minengesellschaft San Esteban Primera, hatte das Unglück keine rechtlichen Konsequenzen – trotz der mangelhaften Rettungsschächte und obwohl es Hinweise gibt, dass im Vorfeld Warnungen über einen bevorstehenden Bergschlag ignoriert wurden. Drei Jahre nach dem Vorfall wurden die Ermittlungen eingestellt. Von den Rettungskosten in Höhe von insgesamt 22 Millionen Dollar übernahm das Unternehmen selbst weniger als ein Viertel.