Es ist ein Geräusch, das Jahrzehnte, eigentlich schon mehr als ein Jahrhundert alt ist: Züge werden verschoben, Rangierer bücken sich unter den Puffern zweier Güterwagen durch und hängen in der Mitte die Kupplung ein. Mit dieser schweren, gefährlichen Arbeit soll bald Schluss sein.
In Eisenbahnkreisen wird von einer Revolution gesprochen. Alle Güterwaggons, die auf Europas Schienen unterwegs sind, sollen innerhalb dieses Jahrzehnts eine neue, einheitliche Kupplung erhalten: die digitale automatische Mittelpufferkupplung, kurz DAK. Sie wird die noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Schraubenkupplung mit den beiden Seitenpuffern an den Waggonenden ersetzen, unter denen nach wie vor Rangierbedienstete zwischen die Wagen klettern und umständlich schwere Bügel auf Haken hängen und festzurren müssen.
Im Bahnwerk Minden der Deutschen Bahn in Westfalen steht ein Demonstrationszug, dessen Waggons an den Stirnseiten keine Puffer mehr haben, sondern, wie bei Schnell-, U- oder Straßenbahnen auch, in der Mitte durch eine massive Kupplungstange mit dem nächsten Waggon verbunden sind. „Das ist körperlich anstrengend zu kuppeln", sagt Sabina Jeschke, Vorstand für Digitalisierung und Technik bei der Deutschen Bahn. „Hinzu kommt, dass es nicht ungefährlich ist, und als Drittes, dass es extrem zeitaufwendig ist."
Also höchste Zeit für die Bahn, um im Gütertransport nun endlich zum Lkw aufschließen zu können. Jaschke rechnet damit, dass mit der neuen Kupplung in den Rangierbahnhöfen etwa 40 Prozent Kapazität gewonnen werden kann. Was die Verkehrsleistung angeht, sogar mehr als 70 Prozent. Denn ein Nebeneffekt des neuen Systems wird sein, dass man längere Züge zusammenstellen kann als bisher.
Von einigen Dutzend Journalisten umringt, präsentiert Sigrid Nikutta, Vorstand der Deutschen Bahn für den Güterverkehr, den mit der neuen Kupplung ausgerüsteten Zug. „Ungefähr 400.000-mal pro Tag müssen in ganz Europa Rangierbedienstete einen rund 20 Kilogramm schweren Stahlbügel eines Waggons auf den Haken eines anderen heben und mit einer Spindel festzurren", sagt Nikutta. „Diese technische Innovation ist schon zwei Menschenleben lang in Vorbereitung, denn die Kupplungstechnik, die wir heute anwenden, ist über 100 Jahre alt."
Der Güterverkehr wird digital
Bereits in den 1970er-Jahren gab es das Bestreben eine automatische Kupplung einzuführen. Damals aber entschied die französische Bahn kurzfristig, ihr Geld doch lieber in den Aufbau des eigenen Schnellzugsystems TGV zu stecken – so wurde es nichts mit der einheitlichen Lösung für den Schienengüterverkehr des Kontinents. Nikutta findet das im Nachhinein gar nicht so schlecht, denn jetzt könne gleich ein weiterer technologischer Schritt gesetzt werden: Die Kupplung wird nicht nur eine automatische sein, die also kein Rangierpersonal mehr benötigt, sie wird auch eine digitale Kupplung sein. Damit ist sie nicht bloß eine Anhängevorrichtung, sondern hat auch Daten- und Stromleitungen integriert.
Vor einem so umgerüsteten Güterwagen steht Projektleiter Ulrich Meuser und schlägt eine Abdeckung am Kupplungskopf zurück. „Das ist der neue Teil, die E-Kupplung für den Schienengüterverkehr", sagt er. „Wir setzen hier auf einfache, klare robuste Technik. Vor allem: Die Kupplung ist stärker als die im Personenverkehr. Wir sind in der Lage 1.000 Kilo-Newton zu ziehen, 2.000 Kilo-Newton zu drücken, das heißt einfach überschlagen für diese Schraubenkupplung, die wir da haben: Wir können mehr als das Doppelte im selben Zugverbund transportieren."
Neben der bisher üblichen Druckluftleitung wird künftig auch eine Datenleitung durch den ganzen Zug laufen. Die transportierten Güter würden immer sensibler und wertvoller, sagt DB-Cargo-Chefin Nikutta und fügt hinzu: „Dank GPS wissen wir, wo jeder Güterwagen ist, aber beispielsweise nicht, welche Temperatur er im Innenraum hat." Das sei aber nicht nur wichtig, wenn Lebensmittel transportiert würden, sondern selbst beim Autotransport legen bestimmte Autohersteller Wert auf diese Informationen.
Eine automatische Mittelpuffer-Kupplung befürwortet zwar auch der Wiener Logistikprofessor Bernd Kortschak, bei der Digitalisierung ist er allerdings skeptisch, weil im Schienengüterverkehr schon heute zu teuer produziert werde. „Mit der Digitalisierung wird es noch teurer. Also muss ich mir überlegen, woher denn das Geld dafür kommen soll." Er sehe keinen Marktnutzen durch die Digitalisierung, stellt Kortschak fest.
Seitens der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), die beim Projekt DAK mittun, wird das autonome Fahren als Ziel der Zukunft genannt. Das aber werde von der Industrie als derzeit nicht umsetzbar ausgeschlossen, sagt der Wissenschaftler Kortschak. Doch Clemens Först, Vorstandssprecher der ÖBB-Rail Cargo-Group, ist überzeugt vom eingeschlagenen Weg: „Wir sind ja neben Nordkorea und Nordafrika so ungefähr die einzige Region der Welt, die immer noch eine Schraubenkupplung mit all ihren Ineffizienzen hat", sagt er. „Das heißt, wir holen da ein paar Jahrzehnte, man kann durchaus sagen 100 plus Jahre auf zum Rest der Welt."
Mit der Umrüstung soll der Güterverkehr auf der Schiene deutlich effizienter werden und dem Güterverkehr auf der Straße leichter Anteile abjagen können. Derzeit werden vier Modelle der Mittelpufferkupplung in der Praxis auf ihre Tauglichkeit untersucht. Laut ÖBB-Güterverkehrschef Först sind für das autonome Fahren intelligente Güterwagen und der intelligente Zug Voraussetzung und dafür wiederum die Strom- und Datenversorgung mittels digitaler Kupplung. „Sie ist im Eisenbahnbetrieb deutlich effizienter, sie ist im Eisenbahnbetrieb auch deutlich sicherer, und allein aus diesen Produktivitätsgewinnen wird geschätzt, dass in Europa rund eine dreiviertel Milliarde Euro im Jahr an Effekt entsteht", sagt der ÖBB-Manager.
Neue Technik birgt deutlich höhere Kapazitäten
Insgesamt wird die Umrüstung von etwa einer halben Million Güterwagen in Europa etwa zehn Milliarden Euro kosten. Davor muss man sich aber erst auf ein gemeinsames Puffer-Modell einigen. Clemens Först: „Wir wollen diese Einigung bald herbeiführen und sind da auch in intensiver Diskussion mit der europäischen Kommission über das Thema Finanzierung. Ich bin momentan extrem optimistisch, dass wir gegen Ende des Jahrzehnts die gesamte Wagenflotte umgerüstet haben werden."
Der Green Deal der EU gibt dem Projekt Rückenwind. Die wichtigsten europäischen Bahnverwaltungen haben sich bereits auf die Einführung geeinigt. Dass diesmal wieder ein Land abspringen und damit das Projekt zum Scheitern bringen könnte, glaubt die Chefin des Deutschen Güterverkehrs, Sigrid Nikutta, nicht: „Wenn wir uns alle einig sind und es auch entsprechend monetär eingestuft ist, gehe ich wirklich davon aus, dass wir es schaffen, weil die Wichtigkeit für alle da ist. Und wenn ich dann als einziges Land im Zweifelsfall eine andere Kupplung haben sollte, habe ich ja auch nichts gekonnt."
Denn Schienengüterverkehr ist international. Mindestens jeder zweite in Deutschland startende Güterzug passiert die Staatsgrenze. Die Bahnverwaltungen von Deutschland, der Schweiz und Österreich, sowie die drei größten Güterwagenvermieter Europas haben sich nun zusammengetan und erproben vier verschiedene Kupplungsmodelle. Mehrere Monate lang wird dann ein Versuchszug mit dem aus den vier Modellen ausgewählten Kupplungstyp im Praxistest in Europa unterwegs sein. Nach dem Auslaufen des Forschungsprojekts in zwei Jahren will man mit der Umrüstung beginnen, die bis 2030 abgeschlossen sein soll.