Plötzlich gilt Abstandhalten zu anderen Menschen als die wichtigste Regel, um sich und andere zu schützen – selbst zu guten Freunden oder der Familie, auch wenn es schwerfällt. Wie wichtig Berührungen für das Wohlbefinden sind und wie Menschen versuchen, sie zu ersetzen, erforscht Prof. Merle Fairhurst in einer aktuellen Studie.
Die aktuelle Covid-19-Pandemie stellt neue Regeln des individuellen Verhaltens und des Umgangs miteinander auf. Nach wie vor gilt Abstandhalten als die wichtigste Sicherheitsmaßnahme. Die Begrenzung von Kontaktmöglichkeiten führt die Forschung zu Erkenntnissen darüber, wie wichtig Berührung für uns wirklich ist, obwohl wir in einer zunehmend berührungslosen Gesellschaft leben.
Jeder Mensch ist anders
Welche Auswirkungen hat die physische Distanzierung darauf, von wem und wie oft wir berührt werden? Wie beeinflusst das unser mentales und psychologisches Wohlbefinden? Um dies zu erforschen, startete die Professorin für Biologische Psychologie Prof. Merle Fairhurst-Menuhin Mitte April ein gemeinsames Projekt mit der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der Liverpool John Moores University. Darin beschäftigen sie sich mit der affektiven Berührung – einer Art von Berührung, die uns mittels eines speziellen Rezeptors in der Haut über andere Menschen Auskunft gibt und uns mit ihnen verbindet. Bei Körperkontakt löst das affektive Berührungssystem eine chemische Reaktion aus, die Stress reduziert und sogar die Schmerzempfindlichkeit beeinflussen kann.
Die Online-Studie untersucht den emotionalen Zustand der Teilnehmenden, den von ihnen empfundenen Grad an Berührungsmangel und den Zusammenhang damit, ob sie alleine oder mit Familienmitgliedern isoliert sind. Unter den ersten wichtigen Ergebnissen war, dass Berührungsmangel einen höchst individuellen Charakter hat. Manche Teilnehmende litten darunter, obwohl sie zusammen mit ihren Familienangehörigen isoliert waren, weil sie gerade den von ihnen gewünschten Typ der Berührung nicht bekommen konnten. Zum Ausgleich des Mangels finden die Menschen unterschiedliche Wege wie Essen oder Selbstpflege. Eine andere Studie zeigte, dass auch Bewegung zum Ausgleich verwendet wird.
Verbesserung der Situation in Deutschland, aber nicht überall
Die Umfrage wurde zunächst in fünf Sprachen (Deutsch, Englisch, Russisch, Spanisch, Chinesisch) durchgeführt, für den weiteren Verlauf der Studie, die noch bis zum Frühjahr 2021 in zwei weiteren Phasen fortgeführt werden soll, beschränkt sich das Team auf die Sprachen Deutsch, Englisch und Russisch. Durch diese internationale Aufstellung können die Auswirkungen in unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Räumen verglichen werden.
Im Vergleich zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt der Umfrage, also zwischen April bis Juni und dem Zeitpunkt zwei Monate später, stellten die Forschenden im deutschsprachigen Raum mehr Energie sowie weniger Traurigkeit und Einsamkeit fest. Für den englischsprachigen Raum konnten sie keine Verbesserung beobachten, die Teilnehmenden dort waren gestresster als am Anfang. Ob diese Unterschiede mit der subjektiven Angst vor der Erkrankung und der Einstellung zur Pandemie zusammenhängen, soll als Nächstes untersucht werden. Denkbar ist dies durchaus: Die Wirkungsmechanismen des affektiven Berührungssystems hängen mit dem Angst- und Schmerzempfinden zusammen.
In den letzten beiden Phasen der Studie, also sechs Monate nach der ersten Phase sowie ein Jahr nach der ersten Phase, wird untersucht, wie es den Teilnehmenden im weiteren Verlauf der Pandemie geht und wie sie ihr Bedürfnis nach Berührungen regulieren. Die weitere Entwicklung der globalen Pandemie bleibt der bestimmende Faktor für die Studie, da noch nicht vorhergesehen werden kann, wie sich die Lage objektiv und subjektiv für die Teilnehmenden in den unterschiedlichen Sprachräumen verändern wird.
Eine Smartphone-App soll Betroffenen helfen
Die einzigartige Herausforderung, vor der unsere ganze Gesellschaft jetzt steht, verlangt nach innovativen Lösungen. Die gute Nachricht ist: viele Mittel dazu liegen uns bereits – buchstäblich – auf der Hand.
Auch die Herausforderung des Berührungsmangels könnte laut dem Plan des Forscherteams durch bekannte Technologien gelöst werden. Prof. Fairhurst ist aktuell an der Entwicklung der Selbsthilfeanwendung „HandsOn" beteiligt, die in Kooperation von insgesamt sieben Forschungsinstitutionen entsteht: Universität der Bundeswehr München, LMU München, Liverpool John Moores University, University of Liverpool, Universität Barcelona, Technische Universität Zypern und Rise Ltd. in Zypern. Die Smartphone-App soll den Nutzerinnen und Nutzern die Bedeutung der sozialen Berührung bewusst machen und sie dazu bewegen, ihre eigenen Bedürfnisse in diesem Bereich besser kennenzulernen. Dafür bietet sie kurze informative Videos und eine Reihe von interaktiven virtuellen Werkzeugen zum Ausprobieren, die sicherlich auch außerhalb der Corona-Pandemie hilfreich sein werden. „HandsOn" ist seit Anfang Oktober in einer Vorab-Testversion für Android und iOS verfügbar.