Ändert sich durch die Corona-Krise unser soziales Miteinander so, dass Berührung in Zukunft nur noch in Subkulturen möglich ist? Prof. Gesa Lindemann glaubt, dass sich bei anhaltenden Pandemie-Maßnahmen das soziale Gefüge grundlegend verändern wird.
Frau Lindemann, wann haben Sie zum letzten Mal jemand Fremden berührt?
Ich glaube, das war Anfang, Mitte Februar, beim Tanzen.
Wie empfinden Sie im Moment den Umgang mit Ihnen fremden Personen?
Generell erscheint es derzeit bedrohlich, anderen näherzukommen. Das hat sich relativ schnell nach den allgemeinen Kontaktverboten eingestellt und ist eigentlich auch über den Sommer, zumindest bei mir, nie weggegangen. Einigen ausgewählten Menschen bin ich nahegekommen, sodass wir uns auch umarmt haben. Aber Fremden jetzt auf diese Weise näherzukommen, fände ich beunruhigend.
In Ihrer Forschung ordnen Sie Berührung in unterschiedliche Bereiche ein. Welche Bereiche sind das, und warum braucht es diese Unterscheidung?
Erst mal muss man sich darüber im Klaren sein, was man unter Berührung versteht. Berührung hat viele Facetten. Wenn sie zwei Kurven haben, wie in der Mathematik, dann berühren sie sich entweder oder sie nähern sich einander wie Asymptoten an. Das würde ich nicht als eine für das menschliche Miteinander wichtige Form von Berührung begreifen. Für das menschliche Miteinander ist die Berührung wichtig, die etwas mit dem eigenen Leib macht. Sie kann nicht auf den Kontakt von Oberflächen reduziert werden. Man wird betroffen durch jemand anderen, der sich auf einen richtet. Insofern kann man auch von Blicken berührt werden. Dann gibt es auch Dinge, die einen emotional, also affektiv berühren können, wie an vergangene, schöne oder auch verletzende Ereignisse zu denken. Man freut sich oder empfindet den Schmerz nach. Bezogen auf die Zukunft ist man vielleicht davon berührt, ob etwas gelingen oder nicht gelingen kann.
Sie sprechen von einer Verschiebung des Verhältnisses vom öffentlichem Raum und dem familiären Nahraum. Ist dies jetzt der Fall?
Vorausgesetzt, wir leben über eine längere Zeit mit der Bedrohung durch Viren, dann ist der öffentliche Raum potenziell gefährlich. Es kann einem immer jemand mit Ansteckungsrisiko begegnen, wir ergreifen also Vorsichtsmaßnahmen wie die Masken. Es wird jetzt zunehmend verbindlich, auch im öffentlichen Raum eine Maske zu tragen. Das ist wie eine Karikatur der bürgerlichen Vorstellung in den 20er-, 30er-Jahren: dass der öffentliche Raum ein Raum der maskenhaften Selbstdarstellung ist und dass man Gefühle und Nähe nur im familiären Nahraum erleben kann.
Für eine Zeit lang war das in vielen Bereichen anders. Ich persönlich tanze Tango, und es ist eigentlich üblich, auf eine Milonga, eine Tanzveranstaltung, zu gehen und dann mit Personen, die man überhaupt nicht kennt, zu tanzen. Das kann zu einem ausgesprochen intimen Erlebnis werden, wenn man sich darauf einlässt.
Diese Art von Intimität ist jetzt in der Öffentlichkeit und auch mit Fremden nicht mehr möglich. Wenn sich das durchsetzen würde, was noch nicht ganz klar ist, würde es schwierig werden, Rock- oder Popkonzerte zu veranstalten, wo ein Teil der Faszination gerade darin besteht, dicht an dicht beieinander zu stehen, die Erregtheit der Nachbarn zu spüren, um sich auf den Gig einzulassen. Das sind dann Veranstaltungen, die vermutlich nur noch in einer Subkultur möglich wären. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir jetzt sozial etwas erleben, was in der Schwulenszene geschehen ist, als Aids, HIV, sich anfing auszubreiten. Da gab es die Lösung Safer Sex. Jetzt ist die Frage, ob es für den sozialen Umgang so etwas wie Safer Contact gibt.
Das heißt, Berührung wird zu etwas Verbotenem?
Es kann sein, dass es gesellschaftliche Bereiche geben wird, die in Zukunft wieder verrucht sind. Dass etwas verrucht, sexuell anzüglich ist, ist im Rahmen der sexuellen Liberalisierung etwas geworden, womit kaum noch jemand etwas anfangen kann: weil alles erlaubt ist, was uns gefällt. Es kann sein, dass wir jetzt eine Wiederkehr des Verruchten, des Sündhaften, des Lasziven erleben, weil etwas verboten ist. Vielleicht kann das sogar Sexualität und Intimität von der Spannung her wieder steigern, weil es wieder den Gegenpol zum bürgerlich Wohlanständigen gibt. In meiner Jugendzeit beäugten die Alten die Kontaktfreudigkeit und sexuelle Promiskuität der Jugend höchst kritisch. Diese Differenz ist weitgehend verloren gegangen. Zum Teil haben sich Eltern heute eher über die Prüderie ihrer Kinder beklagt. Jetzt ist es wieder so, dass die Alten, ich muss mich einbeziehen, wieder sagen: Was machen die jungen Leute da mit ihren Feiern? Fast wie früher. Ein Bereich des bürgerlich-anständigen Verhaltens und den Bereich des verruchten, sozial-lasziven Verhaltens. Sich darauf einzulassen, ist mit Gefahren verbunden, aber birgt deswegen vielleicht auch ganz andere Reize. Insofern glaube ich, dass sich die Ordnung der Berührung auch dahingehend verändern wird, dass wieder der Reiz des Verbotenen auftaucht, der über viele Jahrzehnte kaum noch da sein konnte, weil eben alles erlaubt war.
Unser Alltag ist auch geprägt von dem Momenthaften, dem Blickwechsel, einer flüchtigen Berührung mit Toleranz. Glauben Sie, dass das in Zukunft verloren geht?
Ich glaube, dass sich das verschieben wird. Die lockere Haltung, die wir in den letzten Jahrzehnten zu einer körperlich-räumlichen Begegnung hatten, liegt nicht in der Natur des Menschen. Die bürgerlich-zivilen Umgangsformen um 1900 haben eine viel distanziertere Form des Kontaktes vorgesehen. Die Frage ist, ob wir eine neue Kultur des Kontakts entwickeln, in der die Möglichkeit von Infektionen mit eingearbeitet ist, wo sich so etwas wie eine spontane Berührung mehr in Form von Blickberührungen realisiert als etwa in Form einer spontanen Umarmung.
Auch Intimität verschiebt sich. Was, wenn es für Leute, die zum ersten Mal miteinander Sex haben, zum Ausdruck der höchsten Intimität wird, wenn sie einander danach fragen: Wollen wir die Maske abnehmen? Ich bin mir relativ sicher, dass sich die Bedrohung durch hochinfektiöse Viren zu einem immer wiederkehrenden Zustand entwickeln wird. Dies führt dazu, dass wir Nähe und Distanz neu definieren, dass wir es als Zumutung empfinden, wenn uns jemand auf einen Meter nahekommt. Wenn Sie an das viktorianische Zeitalter denken, wurden damals geschwungene Tischbeine bedeckt, weil das sonst als eine sexuelle Anspielung empfunden worden wäre, die nicht sittlich angemessen ist. Das ist eine Form von Sensibilität, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Es könnten sich jetzt andere Formen von Sensibilität entwickeln. Faktisch wird es auf eine Veränderung hinauslaufen, und man wird sich vielleicht schon in relativ kurzer Zeit nicht mehr daran erinnern, wie es vorher war.
Wir haben uns generationenlang Begegnungsrituale wie Händeschütteln antrainiert. Können solche Gesten einfach abtrainiert werden, ohne dass es dafür einen Ersatz gibt?
Da wird es einen Ersatz geben, da bin ich mir sehr sicher. Das Ellbogen-Ritual oder das Ritual, sich auf Entfernung zu umarmen mit einer angedeuteten Umarmungsgeste. Dadurch stellen wir die Intimität der Beziehung dar. Für uns, die wir das anders gewohnt sind, ist das ein Verlust, weil es die Sehnsucht nach einer „richtigen" Umarmung gibt. Für diejenigen, die in die neue Form hinein sozialisiert werden, wird es vielleicht später unangenehm sein, sich „richtig" zu umarmen, weil das dann viel zu nah, zu bedrückend erscheint.
Welchen Einfluss hat der Staat auf die Art und Weise, wie wir auf andere zugehen, sie berühren?
Einen massiven Einfluss. Wir lernen im Moment gerade, wie wichtig staatliche Regularien für unsere Formen des Zusammenlebens sind. Über lange Zeit hat sich der Staat aus dem, wie wir uns in der Öffentlichkeit begegnen, herausgehalten. Um 1900 galt es ja eher noch als anrüchig, wenn heterosexuelle Paare in der Öffentlichkeit Händchen hielten. Jetzt können es auch homosexuelle Paare machen. Wir lernen gerade wieder, wie sehr wir der Gewalt des Staates unterworfen sind, wenn es darum geht, wie wir zusammenleben: verbotene Feiern, keine Gaststätten, vieles unterliegt nun staatlichen Vorschriften. Wir hatten vollkommen vergessen, dass der Staat dies kann, weil er es bis jetzt den Bürgern überlassen hat. Aber jetzt nimmt er sich dieses Feld wieder zurück.
Trifft dieser Einfluss von außen alle gleich?
Das ist nicht der Fall, denn der Staat setzt sich selbst eine Grenze in Bezug darauf, wie er auf seine Bürger zugreift –
was in privaten Räumen passiert, interessiert den Staat derzeit nicht. Es hängt jetzt davon ab, wie reich man ist, wie groß die Wohnung ist. Wenn Sie in einer großen Wohnung wohnen, mit sagen wir einem 40-Quadratmeter-Wohnzimmer, können sie acht bis zehn Leute einladen und sie abstandsgerecht platzieren. Wenn sie dann noch einen Luftreiniger aufstellen, können Sie sie weitgehend vor einer Infektion schützen. Bei Leuten, die in einer kleinen Wohnung leben, ist die Situation eine andere. Es scheint ja auch so zu sein, dass sich in Bezirken, in denen viele Leute auf engem Raum zusammen wohnen, leicht Infektions-Cluster bilden. Je stärker sich diese bilden, desto eher werden gerade diese Gruppen einer staatlich-politischen Regulierung, einer Verhaltenskontrolle unterworfen. Insofern akzentuiert die Corona-Krise auch die Probleme, die es an sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft gibt.
Wenn diese Krise längerfristig fortbesteht, weil wir uns weiterhin vor hochinfektiösen Viren schützen müssen, was glauben Sie, was wir für eine Gesellschaft in zehn oder 20 Jahren vorfinden werden?
Ich glaube, das hängt davon ab, wie sich politischer Protest organisieren kann. Bisher war unsere Gesellschaft dadurch geprägt, dass immer wieder soziale Bewegungen, die potenziell auch gewaltbereit waren, dazu beigetragen haben, dass sich gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen. Denken Sie an die Arbeiterbewegung, die dafür gestritten hat, die Arbeitszeiten zu verkürzen; an die Frauenbewegung, die dafür gestritten hat, dass Frauen eben nicht nur in die Familie gehören; an die Umweltbewegung, aber auch an die rechten Bewegungen, die zur Bildung der AfD geführt haben. Die Frage ist, ob diese Art von politischem Protest weiterhin möglich sein wird. Denn dieser Protest ist strukturell für die moderne Gesellschaft bestimmend. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass staatlich geherrscht wird und die Herrschaft immer unter einer kritischen Beobachtung durch soziale Bewegungen steht. Wenn dieser Aspekt wegfällt, dann kann es sein, dass sich die Gesellschaft zunehmend in eine technokratisch-autoritär geführte verwandelt.
Wenn diese Möglichkeiten des Protestes erhalten bleiben, glaube ich, dass sich die grundlegende Struktur unserer Gesellschaft nicht verändern wird. Es wird weiterhin auf eine gewinnorientierte Weise gewirtschaftet werden, es wird eine repräsentative Demokratie geben, einen Rechtsstaat mit einem aktiven politischen Protest, der gesellschaftliche Lernprozesse immer wieder anstoßen kann. Es findet aber eine tiefgreifende Veränderung statt, was das betrifft, was wir als Nähe empfinden, wie wir etwas als emotional berührend erleben.
Können Sie sich eine berührungslose Gesellschaft vorstellen?
Nein! Wenn wir leibliche Wesen sind, dann werden wir uns immer berühren. Wir werden das mit Blicken und mit Gesten tun. Wir können über viele, viele Meter die Erfahrung machen, auf eine Weise angeblickt zu werden, dass man sich ausgezogen fühlt. Dazu muss niemand direkt vor Ihnen stehen.
Eine berührungslose Gesellschaft wären tote, nebeneinander liegende Körper. Das ist dann aber auch keine Gesellschaft mehr. Wenn sie wiederum lebendige Körper haben, die sich nach außen richten, die blicken, die Gesten machen, die andere ansprechen und sich angesprochen fühlen, werden sie immer in einer Gesellschaft leben, die durch Berührungen bestimmt ist und deren Berührungen in einer bestimmten Weise geordnet sind.