Das berühmteste Streichinstrument der Welt, die Stradivari, stammt zwar aus Norditalien, doch die Wiege des Geigenbaus liegt woanders. In Füssen im Allgäu wurden die ersten Zupf- und Streichinstrumente gebaut. Heute erlebt das Handwerk dort eine Renaissance.
Sie hängen von der Decke, liegen im Rohbau auf dem Tisch und zieren auf Ständern die Werkstatt. Es duftet leicht nach Holz, im Hintergrund läuft leise das Radio. Sägen, Feilen, Spitzer, Hobel und Leimtöpfe stehen, liegen und hängen griffbereit. Oliver Radke hat immer mehrere Instrumente parallel am Wickel. Für einen neuen Auftrag sucht er zwei dünne Holzbretter aus, hält sie aneinander, um zu prüfen, ob die Maserung stimmt. „Wichtig ist, dass die beiden Hälften aus einem Baum stammen, sonst passen sie nicht", sagt der Geigenbauer und leimt die Holzteile zusammen. Während der Leim trocknet, widmet er sich dem nächsten Werk. Er greift einen Hobel, um aus einem anderen Holz die Wölbung des Geigenkörpers herauszuarbeiten. Den Seitenteilen, den sogenannten Zargen, verpasst er mit dem gleichen Werkzeug die richtige Stärke, um sie für den Geigenkörper entsprechend biegen und formen zu können. Kleine Holzstücke, die Klötze, dienen auf einem Formbrett als Gerüst für das künftige Instrument. Für die Decke nimmt Radke einen Schnitzer zur Hand und schneidet die vorgezeichnete kunstvoll geschwungene Form der F-Löcher aus. „Die Schnitzer sind am Wichtigsten, ich habe sie alle selber gemacht und gebe sie nicht aus der Hand", sagt der Geigenbauer in schwarzer Jeans und schwarzem T-Shirt. Für die Decke verwendet er Fichtenholz; es ist für ihn das beste Resonanzholz. Den Korpus und den Hals fertigt er aus Ahorn, es ist besonders biegsam. Während Radke die nächsten Schritte plant, schlendern vor seiner Werkstatt Passanten durch die kleine Brunnengasse mitten in der Altstadt von Füssen.
Das kleine Städtchen im Voralpenland mit seinen verwinkelten Gassen und den schönen Fachwerkhäusern lockt jährlich zahlreiche Besucher an. Die Königsschlösser Neuschwanstein und Hohenschwangau, Österreich, die imposanten Berge und Seen – alles liegt hier fast vor der Tür. Doch der romantische Ort im Allgäu hat noch eine ganz andere Seite. Füssen gilt als die Wiege der Zupf- und Streichinstrumente in Europa. Die Stadt war einst eines der bedeutendsten Zentren für Musikinstrumente in der Welt.
Anfangs die Stadt der Lautenmacher
Erste Einträge finden sich in den Archiven seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert. Die erste Zunft wurde 1562 gegründet, 1633 tauchte die Berufsbezeichnung des Geigenmachers auf. Rund 30 Jahre später entstand vermutlich die Stradivari, die berühmteste Geige der Welt, in Cremona in der Lombardei. Füssen genoss zunächst als Stadt der Lautenmacher Weltruhm. Die Lauten haben eine lange Geschichte, stammen aus dem arabischen Raum und kamen über das maurische Spanien und das byzantinische Reich nach Mitteleuropa. Während der Renaissance galt die Laute als Königin der Instrumente.
Nach der Zunftgründung arbeiteten in der 2.000 Einwohner zählenden Stadt bis zu 20 Lautenmachermeister und damit mehr als Tischlermeister. Mit Beginn der Barockzeit sorgten die Geigen für den Ruhm, nicht weniger als 80 Geigenbauer belieferten vom Ostallgäu aus ganz Europa.
Der Grund dafür war, dass die besten Klanghölzer reichlich in den Wäldern der Umgebung verfügbar waren: Fichte, Eibe und Ahorn. Auch die Lage am floßbaren Lech war für den Instrumentenbau wie für den Export von Vorteil. Am Fluss befanden sich große Lagerplätze, wo die Stämme über Monate bis zur Schneeschmelze gesammelt wurden. Bevor sie zu Flößen zusammengebunden wurden, konnten die Instrumentenbauer in Ruhe die besten Holzstücke für sich heraussuchen. Zudem lag Füssen verkehrsgünstig an der einst wichtigen Handelsstraße der Römer, der Via Claudia Augusta, die den süddeutschen Raum mit Norditalien verband.
Entscheidend für den florierenden Instrumentenbau war auch die kulturelle Aufgeschlossenheit der Stadt, die die Aufträge für die Musikinstrumentenmacher garantierte. Kloster und Hohes Schloss, die Residenz der Augsburger Fürstbischöfe förderten die schönen Künste. Kaiser Maximilian I. brachte bei seinen zahlreichen Aufenthalten in Füssen stets seine eigene Hofkapelle und bekannte Komponisten mit. Ein strenges Zunftgesetz, das die Anzahl der Meisterbetriebe beschränkte, zwang jedoch Hunderte in Füssen ausgebildete Lauten- und Geigenmacher zur Auswanderung. Sie zogen nach Wien, Prag oder Venedig und wurden dort mit offenen Armen empfangen. Unter den Gastarbeitern in Italien waren auch die Söhne der berühmten Instrumentenbauerfamilie Tieffenbrucker, an die heute ein Brunnen am Füssener Brotmarkt erinnert.
Während die hervorragend ausgebildeten Instrumentenbauer im Ausland Karriere machten, starb das Handwerk in Füssen langsam aus. Am 19. Mai 1835 schrieb der Füssener Geigenbauer Joseph Alois Stoß: „Da sein Geigenmachers Gewerb ganz ohne allen Verdienst seie, verzichte er nun hierauf förmlich, und lege solches nieder." Er war der letzte seiner Zunft. Mit seinem Tod 1866 endete die große Tradition der Füssener Meister.
Mehr als 100 Jahre später erlebte der Geigenbau eine Renaissance. Der Geigenbauer-Meister Pierre Chaubert aus der französischen Schweiz gründete 1982 in Füssen wieder eine Werkstatt. Heute halten drei Instrumentenmacher die Tradition der alten Handwerkskunst lebendig. Einer von ihnen ist Oliver Radke.
Leim aus Knorpel, Haut und Abfällen
Der gebürtige Karlsruher, der am Niederrhein aufwuchs, kam über sein Hobby zum Instrumentenbau. Nach zwei Schnuppersemestern Chemietechnik entschied sich der leidenschaftliche Kontrabassspieler und Jazzliebhaber zu einer Ausbildung an der traditionsreichen Staatlichen Musikinstrumentenschule Mittenwald. Beim zweiten Anlauf bekam Radke an der Schule einen Platz. Eigentlich wollte er dann aus Bayern weg, suchte eine Gesellenstelle in Norddeutschland und fand jeweils eine in Köln und Füssen. „In Füssen stimmte die Chemie sofort", sagt der Meister, der bei Pierre Chaubert lernte. Nach einem Restaurationskurs in den Vereinigten Staaten wollte er dort bleiben. Doch als nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 die USA in eine Schockstarre verfielen, ging er nach Füssen zurück. Er kaufte und renovierte ein altes Fachwerkhaus aus dem 13. Jahrhundert, gründete 2003 seinen Handwerksbetrieb und ging regelmäßig auf Messen, um bekannter zu werden. Heute baut und repariert er vor allem Geigen, aber auch Bratschen, Cellos und Kontrabässe. An einem Instrument arbeitet er rund zwei Monate. „Geigen kosten bei mir ab 16.000 und Kontrabässe ab 25.000 Euro", sagt der 57-Jährige, der in verschiedenen Bands und bei Konzerten als Bassist zu erleben ist. Seine Kunden kommen aus den USA, aus Japan und dem Rest der Welt. Entscheidend ist, wie das Instrument zwischen Schulter und Kinn sitzt – und natürlich der Klang. „Der kann brillant, dunkel, fein oder rotzig frech sein", sagt Radke. Da sei die individuelle und kulturelle Vorliebe entscheidend.
Nach und nach nimmt die neue Geige in der Werkstatt Formen an. Oliver Radke greift zu einem Glas mit Leim und befestigt einen Hals am Korpus. Auch beim Leim schwört jeder Meister auf eine eigene Rezeptur. „Aus Knorpel, Haut und Schlachtabfällen ist er einfach am besten", sagt Radke. Draußen in der Gasse wird es ruhiger, der Tag geht langsam zu Ende. Oliver Radke macht sich an den Bau der Schnecke, den Abschluss des Halses. „Die Schnecke zu fertigen und zu verzieren macht immer wieder besonders viel Freude, sie ist die Visitenkarte jedes Gegenbauers", sagt er. Er schnitzt sie am liebsten abends, wenn es dunkel wird und etwas Gutes im Radio läuft. Am nächsten Tag wird die Geige lackiert, dann sind die Saiten und der Rohbau eines Cellos dran. Danach will Oliver Radke selbst den Kontrabass zum Klingen bringen.