Wenn Babys bei der Geburt einen Schaden erleiden, vermutet man oft schnell einen ärztlichen Kunstfehler. Doch eine sogenannte Geburtsparese hat zumeist andere Ursachen. Dr. Jörg Bahm, Leiter der Sektion Plexusparese an der Uniklinik Aachen, operiert Plexuskinder mit schweren Schädigungen der Rückenmarksnerven.
Der Plexus brachialis ist ein in der Halsregion gelegenes Nervengeflecht, das den Arm versorgt. In dem Geflecht docken fünf Nervenstränge am Rückenmark an und sind dafür zuständig, dass der Arm motorisch und sensibel intakt ist. Anders gesagt: Der Plexus brachialis ist die motorische und sensible Steuerzentrale für den Arm. Doch diese Nervenstränge können durch Komplikationen bei der Geburt geschädigt werden.
An einen extremen Fall einer geburtsassoziierten Verletzung des Plexus brachialis kann sich Dr. Jörg Bahm noch gut erinnern. Bahm leitet seit April dieses Jahres die Sektion Plexuschirurgie an der Universitätsklinik RWTH Aachen, zuvor war er Leitender Arzt des Fachbereichs Plastische und Handchirurgie am Franziskushospital Aachen. Die Mutter einer Migrantenfamilie mit irakischen Wurzeln hatte einen Nachkömmling zur Welt gebracht. „Von den fünf Nervenwurzeln waren im Zuge der Entbindung vier ausgerissen", schildert der Facharzt für Chirurgie und für Plastische Chirurgie. Nur noch eine einzige Wurzel des Neugeborenen war unversehrt.
Für jene schwere Verletzungsart des Plexus brachialis zieht der Mediziner folgenden Vergleich: „Das Rückenmark ist wie eine Steckdose. Wenn diese aus der Wand herausgerissen ist, können wir diese auch nicht mehr neu mit Kabeln versorgen." Wenn also von fünf normalerweise vorhandenen Steckdosen vier defekt sind, kann der Chirurg keinen motorisch gut versorgten Arm wiederherstellen, sondern kann einen Nerventransfer vornehmen. Dabei wird der nicht mehr ansprechbare Nerv überbrückt, indem man einen anderen Nerv umlagert und ans Rückenmark anschließt.
Dass heute immer noch solche Verletzungen auftreten, ist aber nicht etwa dem oftmals in Medien skandalisierten Ärztepfusch, sondern vielmehr der Komplexität der Geburten in vielfacher Hinsicht geschuldet, versichert Bahm. Dennoch kann vielen betroffenen Kindern und Babys die moderne Plastische Chirurgie helfen. „Die Leute sagen zwar immer, eine OP ist das Schlimmste was einem im Leben passieren kann, aber wenn man etwas was kaputtgegangen ist chirurgisch wieder zusammenbringen kann, ist das eine tolle Sache", betont Bahm und verweist auf die im Laufe von 30 Jahren etablierten Methoden zur Funktionswiederherstellung der oberen Extremitäten. „Das Spektrum unserer Patienten reicht von der kindlichen Plexusparese über Kinder und Erwachsene, die nach einem Unfall halbseitig oder querschnittsgelähmt sind", sagt Bahm.
Mehrere Faktoren erhöhen das Risiko für eine Geburtsparese
Mehrere Faktoren können das Risiko für eine Geburtsparese erhöhen. Eine Schulterdystokie, bei der sich die Schulter des Kindes am hinteren Schambein verhakt, tritt in 1,5 Prozent bei den vaginalen Geburten auf, sagt Prof. Dr. Thomas Schwenzer, Direktor des Klinikums Dortmund. Dazu zählen die vaginal-operativen Entbindungen und Vakuumextraktionen. Die Schulterdystokie verläuft in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. „Manchmal lassen sie sich sehr leicht lösen, manche jedoch extrem schwierig", sagt der Leiter des Gynäkologischen Krebszentrums am Klinikum Dortmund, der gemeinsam mit Dr. Jörg Bahm das Buch „Schulterdystokie und Plexusparese" verfasst hat. Um möglichst die Hauptkomplikation der Schulterdystokie, den Plexusschaden zu verhindern, gebe es standardisierte Vorgehensweisen. Die Plexusparese tritt wiederum nur in etwa jedem zehnten Fall einer Schulterdystokie auf. Insofern bewertet sie der Facharzt als ein „sehr seltenes Ereignis", aber unter Umständen „sehr schwerwiegendes Ereignis".
Die Schulterdystokie steht in enger Wechselwirkung mit dem Gewicht des Babys. „Kinder, die mehr als 4.000 Gramm wiegen, sind besonders gefährdet", erklärt Schwenzer. Für den äußerst seltenen Fall, dass ein Kind ein Gewicht von 5.000 Gramm hat, liegt das Risiko bei über 40 Prozent, dass eine Schulterdystokie eintritt. Als weiteren Risikofaktor nennt Prof. Schwenzer die Schwangerschaftsdiabetes und bereits eine vor der Schwangerschaft bestehende Diabetes werdender Mütter. „Wir finden Schulterdystokien gehäuft nach vaginal-operativen Entbindungen, das heißt nach einer Vakuum- oder Zangenentbindung", so Schwenzer weiter. Zur Vermeidung der Plexusparese kann man zwei Strategien anwenden: Zum einen kann in den Kreißsälen die Schulterdystokie trainiert werden. Und zwar indem Hebammen und Ärzte den richtigen Umgang lernen, wie eine Schulterdystokie so gelöst wird, dass dabei der Plexus nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. „Wenn man gut trainiert, ist das Risiko eines Plexusschadens viel geringer", sagt Prof. Schwenzer. Zweitens sollte im Vorfeld einer Geburt eine „sorgfältige Risikoselektierung" vorgenommen werden. „Im begründeten Einzelfall sollte man einer Frau raten, ihr Baby per Kaiserschnitt zur Welt bringen zu lassen."
„Man darf nicht vergessen, dass es auch die Kinder gibt, die nur einige Tage in ihren Bewegungen eingeschränkt sind und danach alles vergessen können", sagt Bahm. Diese Gruppe der betroffenen Kinder macht den überwiegenden Teil aus. „Wir sehen nur die mit einer schweren Schädigung, das ist maximal ein Drittel der Fälle", ergänzt er. Über einen Zeitraum von 20 Jahren, so sagt Bahm, hat er ungefähr 2.000 dieser mit dem Krankheitsbild betroffenen Patienten gesehen – einige im Babyalter, andere im Alter von zehn Jahren und wiederum andere als junge Erwachsene. Allerdings gibt es kein zentrales Register, in dem die Fälle der geburtsbedingten Plexusparesen erfasst werden.
Wenn im Zuge der Entbindung eine geburtsassoziierte Plexusparese diagnostiziert worden ist, sollten die betroffenen Eltern zunächst Ruhe bewahren und nichts überstürzen. Um den Schaden für das betroffene Kind möglichst gering zu halten, sollte der Arm in den ersten zehn Tagen in einer Schlinge geschont werden. Der kleine Patient sollte in jedem Fall dem Kinderarzt vorgestellt werden, mit dem über die weiteren Schritte wie etwa die Behandlung durch einen Physiotherapeuten gesprochen werden kann. „Wenn es eine reine Überdehnung des Arms ist, dann sind die betroffenen Kinder nach zwei, drei Wochen wieder fit", berichtet Dr. Bahm. Diese Kinder genesen vollständig und Jahre später kann man keinerlei Einschränkung feststellen. Doch wenn nach Ablauf einer Drei-Wochen-Frist der eine Arm im Vergleich zum anderen immer noch deutlich verändert ist, sollte das Kind erneut dem behandelnden Kinderarzt vorgestellt werden und der sollte es in ein spezialisiertes Zentrum überweisen. „Wir als Nervenwiederherstellungschirurgen kommen in zweiter Reihe nach ein, zwei Monaten dazu", erklärt Bahm. Außer der Uniklinik Aachen sind auch das Kinderkrankenhaus Altona, das Unfallkrankenhaus Berlin und die Uniklinik München auf Plexuschirurgie spezialisiert.
Dr. Jörg Bahm glaubt, dass es mehrere Ansätze gibt, wie man Prävention betreiben kann. Erstens müssen die Geburtshelfer darüber aufgeklärt werden, dass die Plexusparese ein seltener, wenngleich schwerer Schaden sein kann. Aber ebenso wichtig ist auch das Wissen um eine mögliche Cerebralparese, also eines Sauerstoffmangels bei der Geburt, die zu einer Hirnschädigung führt. „Geburtshelfer sind mittlerweile via Internet und Vorträgen auf Kongressen für das Problem sensibilisiert worden", meint Bahm.