Etwa neun Millionen Menschen leiden in Deutschland unter unfreiwilligem Urinverlust. Facharzt Dr. Wilhelm Adelhardt gibt Einblick in das Problem Blasenschwäche, das deutlich weiter verbreitet ist, als man denkt.
Jede fünfte Frau im Alter zwischen 25 und 50 und jede dritte Frau über 50 Jahre leidet an einer Harninkontinenz. Die Menge der Betroffenen macht einen erst einmal baff. Und dass die Problematik des unfreiwilligen Urinverlustes viele in die Scham oder gar in eine Depression treibt, macht betroffen. Doch es gebe auch positive Meldungen, wie Dr. Wilhelm Adelhardt erklärt. Der Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe hat seine Frauenärztliche Privatpraxis im Medizinzentrum Rotenbühl in der Scheidter Straße in Saarbrücken. Bereits seit vielen Jahren, Jahrzehnten gar, hat er also direkt mit Frauen zu tun, die unter einer Blasenschwäche leiden. Er findet: „Das Thema ist immer noch stark tabuisiert."
Eine der positiven Erfahrungen, handelt von einer Mitte-80-Jährigen. Die unter vollständiger Inkontinenz leidende Frau habe vor der Behandlung über zehn Binden tagsüber und bis zu drei nachts verbraucht. Nach der erfolgreichen minimalinvasiven Operation bei der schmerzfrei in örtlicher Betäubung eine abdichtende Substanz unter die Harnröhre gespritzt wird, brauchte sie fast keine Binden mehr und hatte ein völlig neues Lebensgefühl, wie er berichtet: „Sie hat geweint vor Glück." Ihre beiden Töchter konnten es kaum fassen, dass ihre Mutter nun wieder rausgehe, zu einem Spaziergang zum Beispiel.
Von den betroffenen rund neun Millionen Menschen in Deutschland sind Frauen deutlich häufiger betroffen als Männer. Das liege in den anatomischen Gegebenheiten, wie Adelhardt erläutert (siehe Infobox). Grundsätzlich unterscheide man zwei verschiedene Formen der Blasenschwäche. Die Belastungsinkontinenz bestehe, wenn man Harnverlust bei Sport verspüre – oder bei vermeintlich geringeren Körperaktivitäten wie Husten, Niesen und Lachen. Die Dranginkontinenz wiederum bezeichnet den plötzlichen oder gar überfallartigen Harndrang mit unwillkürlichem Urinverlust. „Daneben gibt es auch Mischformen und andere, seltenere Ursachen des ungewollten Urinabganges", so Wilhelm Adelhardt.
„Nicht einmal 20 Prozent der betroffenen Frauen sprechen ihren Arzt auf dieses Problem an", sagt der Facharzt. Dabei könne man heutzutage durch fachgerechte Untersuchung und gut fundierte Beratung jeder Frau die Chance auf eine Behandlung und eine deutliche Besserung geben – oft könne es sogar zu einer Heilung kommen. So können oft ganz einfache Umstellungen der Lebensführung eine Rolle spielen. Zum Beispiel kann eine Gewichtsreduktion eine Belastungsinkontinenz deutlich bessern.
Weiter wichtig ist ein Beckenbodentraining zur Bewusstmachung der dortigen Muskulatur. Hier geht es insbesondere um die Optimierung von bewusster Beckenbodenkontraktion bei drohendem Urinverlust und Entspannung des Beckenbodens in Ruhephasen. Das Training sollte fachlich angeleitet werden und über mindestens drei Monate erfolgen. Eine zusätzliche Elektrostimulation über einige Minuten pro Tag könne die Wirkungen des Trainings sogar noch verstärken. Zudem gebe es Medikamente, die in vielen Fällen zu einer deutlichen Besserung führen.
Daneben stehen auch operative Verfahren zur Verfügung, die sich über die Jahre bewährt hätten. „Der ‚Goldstandard‘ in der operativen Behandlung ist die Einlage eines schmalen Kunststoff-Bändchens (TVT-Band, Anm. d. Red.) unter die Harnröhre. Dieser Eingriff ist relativ klein und zeigt in geübter Hand Erfolgsraten bis 90 Prozent." Bei Erfolgsraten bis immerhin 60 Prozent liegt die Unterspritzung der Harnröhre mit einem Füll-Material, das die Harnröhre besser „abdichten" soll. „Diese Methode ist für Frauen geeignet, bei denen die Einlage eines Bändchens ungünstig ist", erklärt der Spezialist. Eine dritte operative Methode ist das „Anheben des Blasenhalses" durch eine Schlüsselloch-Operation. Daneben gebe es experimentelle Verfahren wie die Lasertherapie der Scheide oder die Behandlung mit Stammzellen im Bereich der Schließmuskulatur.
Im Falle einer Reizblase, auch Drangblase oder überaktive Blase genannt, habe sich ein Tagebuch-Protokoll bewährt, in dem erfasst wird, wie stark der Drang subjektiv belästigt, wie häufig dieser auftritt und wie häufig Urin ungewollt abgeht. Bereits die Verlagerung der Haupttrinkmenge des Tages von der Abend- auf die Morgenzeit könne ebenso nützlich sein wie das Trainieren der Harnblase und das Wiedereingewöhnen einer größeren Blasen-Füllungsmenge. Dies kann medikamentös durch wirksame Präparate unterstützt werden.
Sollte die medikamentöse Behandlung nicht ausreichend wirken oder gar nicht möglich sein, kann das Einspritzen von Botox (Botulinumtoxin A) während einer Blasenspiegelung in den Blasenmuskel erfolgen. „Die Erfolgsquote liegt bei 75 Prozent und die durchschnittliche Wirkdauer bei circa neun Monaten", so der Facharzt. Es sei lediglich ein kleiner Eingriff – aber so könne die Lebensqualität ganz erheblich gesteigert werden. Sollte jedoch beispielsweise eine ausgeprägte Blasensenkung vorliegen, die den Harndrang verursacht, könne durch ein Pessar oder auch durch einen operativen Eingriff der Blasenboden stabilisiert werden.
Sollten bei diesen Verfahren Behandlungserfolge ausbleiben, stünde noch ein Blasenschrittmacher zur Disposition, den man – ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher – einpflanze. Mit diesem könne man die Nervenversorgung der Harnblase und des Enddarms („Neuromodulation") positiv beeinflussen und somit auch die Funktionen der Ausscheidungsorgane. „Die Erfolgsraten sind hierbei sehr hoch."
„Frauen, die an einer Mischinkontinenz leiden, erhalten eine Kombination aus den oben beschriebenen Behandlungsansätzen", wie der Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe erklärt. Hoffnung auf eine Heilung oder zumindest auf eine enorme Steigerung der Lebensqualität besteht also heutzutage. Doch wie kommt es eigentlich zu unfreiwilligem und belastendem Harndrang? Das habe bei der Belastungsinkontinenz vor allem mit einer Schwäche des Verschlussmechanismus von Harnröhre und Harnblase zu tun, wie er erläutert. Als Risikofaktoren gelten weiterhin eine im Laufe des Lebens entstehende Schwächung des Bindegewebes, die Belastung des Gewebes durch Geburten und eben Übergewicht.
Verschiedene Formen müssen auch unterschiedlich behandelt werden
Bei der Drang- oder der überaktiven Blase mit Urinverlust ist hingegen die Speicherfunktion der Blase durch eine Überaktivität gestört, es sei eine regelrechte „Nervosität" des Blasenmuskels. Das könne durch chronische Entzündungen der Blase kommen, die jedoch nicht die typischen Zeichen einer akuten Blasenentzündung wie Brennen, gar Fieber oder sehr häufiger Harndrang hätten. Vielmehr zeichne es sich in diesem Fall durch Schmerzen in der Blase, häufigem Harndrang und einem leichten Unwohlsein in der Blase nach der Entleerung ab.
„Bei Frauen nach den Wechseljahren liegt manchmal ein Hormonmangel der Schleimhäute vor", führt Wilhelm Adelhardt einen weiteren Grund auf. Hierdurch werde nicht nur die Scheidenhaut trockener und reizbarer, sondern auch die innere Haut der Blase und der Harnröhre. Ebenso könne eine Senkung der Beckenorgane, insbesondere der Harnblase, zu einer Reizblase beitragen. „Ist der Harndrang sehr ausgeprägt und die abgegebenen Urinmengen oft klein, deutet das auf eine Drang- oder Reizblase hin." Auch neurologische Störungen nach Krebs-Operationen im kleinen Becken am Darm oder der Gebärmutter und neurologische Erkrankungen wie zum Beispiel der Morbus Parkinson könnten ursächlich sein.
Bei einer Mischinkontinenz wiederum fänden sich Symptome sowohl einer Belastung- als auch einer Drangblase. Diese Kombination kann beispielsweise dadurch entstehen, dass einer Frau zunächst bei Belastungen Urin abgeht. Dadurch geht sie sicherheitshalber oft vorsorglich zur Toilette. „Die Blase gewöhnt sich dann daran, schon bei kleinen Füllmengen geleert zu werden." Da sich die Behandlungen also sehr stark unterscheiden, sei es im Vorfeld wichtig zu unterscheiden, welche Art von Blasenschwäche vorliege.
Was soll man nun am besten tun, wenn man zu oft zu viel Harndrang und auch noch Schmerzen verspürt? „Zunächst sollte sich die betroffene Frau vertrauensvoll an einen Frauenarzt oder einen Urologen wenden", benennt der Facharzt die einfachste Herangehensweise. Nach einer ausführlichen Anamnese, also der möglichst genauen Aufnahme der medizinischen Vorgeschichte inklusive etwaiger Vor-Operationen und Medikamenteneinnahme, können Basisuntersuchungen erfolgen.
Dazu gehören etwa die Untersuchung des Beckenboden und des Schleimhautaufbaus und eine Untersuchung des Urins, eventuell auch die Anlage einer Urinkultur, um eine Harnwegsinfektion auszuschließen. Bei Verdacht auf eine Belastungsinkontinenz erfolgt zuerst ein Hustentest. Steht eine Dranginkontinenz im Raum, wird ein Miktionsprotokoll geführt, also Trink- und Toiletten-Zeiten werden notiert und analysiert.
Sollte nach der Basisuntersuchung die Diagnose weiterhin unklar sein, stehen weitere Untersuchungsmethoden zur Verfügung. Etwa die Urodynamik. Bei dieser Blasendruckmessung werden die Druckverhältnisse der Harnblase während der Füllung sowie am Beckenboden und in der Harnröhre und deren Schließmuskulatur gemessen. Gleichzeitig kann dabei die Nerven-Versorgung des Beckenbodens untersucht werden. Ein Spezial-Ultraschall des Beckenbodens – eventuell auch in 3-D –
kann eine Aussage treffen über die funktionellen Beziehungen von Blasenhals und Harnröhre sowie Blasenboden.
„Darüber hinaus bestehen Möglichkeiten einer Ultraschall-Untersuchung der Nieren und des Nierenbeckens sowie einer Blasenspiegelung", so Dr. Adelhardt. Er ist sich sicher: „In guter Kooperation zwischen Frau und Arzt können so auch in kompliziertesten Situationen sehr zufriedenstellende Lösungen erzielt werden." Er erklärt: „Wir behandeln eigentlich den Leidensdruck der Frau." Denn dieser sei enorm vielfältig ausgeprägt. Neben dem oben genannten Beispiel der betagten Patientin erinnert er sich auch gut an eine deutlich jüngere Frau. Diese hatte ebenfalls ungewollte Blasenschwäche, was in diesem Fall ihr Tennisspiel stark beeinträchtigte. Nach der Behandlung konnte sie deutlich befreiter spielen und viele Matches gewinnen, die sie vorher verloren hätte.