Die gängigsten MS-Therapien beschränken sich auf eine medikamentöse Behandlung der Entzündungsreaktion. Doch inzwischen gibt es in der Forschung auch neue hoffnungsvolle Therapie-Ansätze.
Bis Anfang der 1990er-Jahre gab es noch keinerlei Therapien für die Behandlung der Multiplen Sklerose. Sie war für Neurologen ein weithin unbekanntes Feld. Bei Entzündungen waren seit den 60er-Jahren nur Substanzen wie Kortison zum Einsatz gekommen. Für die vergangenen 30 Jahre kann von gewaltigen Fortschritten in der MS-Forschung gesprochen werden. Die MS-Forschung zählt zu den Disziplinen, in denen sich derzeit sehr viel bewegt. Es gibt andauernd neue Studien zu womöglich wirksameren, das Immunsystem dämpfenden Medikamenten sowie zu Mechanismen, mit deren Hilfe die Myelinscheide wiederhergestellt werden könnte. Diese Schutzhülle der langfaserigen Fortsätze der Nervenzellen, die Reize weiterleiten, wird durch Entzündungsherde der Krankheit zerstört. Auch an der Entwicklung von Blockadesubstanzen, die prophylaktisch den Untergang von Nervenzellen verhindern sollen, wird derzeit ebenso unter Hochdruck gearbeitet wie an einer gezielten Modulation der im Rahmen der Autoimmunerkrankung fehlregulierten T- und B-Zellen, beide Vertreter der weißen Blutkörperchen.
Ziel der Forscher ist es, endlich die genaue Ursache und den Verlauf der MS zu ermitteln. Außerdem soll eine optimale und individuelle Therapie für jeden Patienten möglich gemacht werden. Der Schwerpunktbereich Neuroimmunologie zählt ebenso zu den MS-Forschungsansätzen. Hier werden die Zusammenhänge zwischen Immun- und Nervensystem untersucht. Bemerkenswert ist auch, dass sich die MS-Forschung immer stärker einem ganzheitlichen Therapieansatz zugewandt hat.
Da bislang die genauen Ursachen der komplexen MS noch nicht geklärt werden konnten, konnte auch noch keine konkrete Therapie zum Stillstand der Erkrankung entwickelt werden. Daher muss sich die MS-Forschung derzeit primär darauf konzentrieren, die Krankheitsaktivität zu reduzieren sowie die Behinderungsprogression möglichst wirksam aufzuhalten. Fest steht nur, dass es bei der MS zu einem Angriff des Immunsystems gegen die Strukturen des zentralen Nervensystems kommt. Warum dies geschieht, ist bislang unbekannt. Vermutet wird, dass bei jedem Patienten ganz individuelle und unterschiedliche Faktoren zusammenspielen. Die genetische Veranlagung kann dabei ebenso ausschlaggebend sein wie Umwelteinflüsse, unausgewogene Ernährung, ein durch hohe Hygienestandards anfälliges Immunsystem, Tabak-Konsum, Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus oder Vitamin D-Mangel aufgrund nicht ausreichender Sonneneinstrahlung. Letzteres vermuten die Forscher, weil in nördlichen Breitengraden MS wesentlich verbreiteter ist als in südlichen Gefilden. Warum Frauen rund viermal häufiger an MS erkranken, konnte ebenfalls noch nicht geklärt werden. Allerdings haben die Wissenschaftler ein bestimmtes Eiweißmolekül im Verdacht, dass bei Frauen in größerem Maße vorkommt und möglicherweise entzündungsfördernde Zellen des Immunsystems in das zentrale Nervensystem einschleusen könnte.
Speziell in der Neuroimmunologie gibt es aktuell eine ganze Reihe neuer Forschungsansätze. Den fehlgeleiteten T- und B-Zellen, die ihre Angriffe gegen körpereigene Strukturen richten und dabei auch noch entzündungsfördernde Zytokin-Proteine freisetzen, wird dabei besondere Aufmerksamkeit zuteil. Da T-Zellen durch sogenannte Antigen-präsentierende Zellen immer wieder zu einer Entzündung stimuliert werden, sollen die dafür verantwortlichen Zellen-Oberflächen-Eiweiße deaktiviert werden. Zudem soll den autoaggressiven T-Zellen durch Aufbau von Schutzmechanismen das Durchdringen der Blut-Hirn-Schranke Richtung zentralem Nervensystem verwehrt werden. Die fehlgeleiteten B-Zellen sollen an der Produktion von Antikörpern gegen Myelin gehindert werden. Zur Reparatur des Nervengewebes soll die Neubildung von Myelinhüllen angekurbelt werden. Zum einen soll das geschehen durch Ankurbelung der körpereigenen myelinbildenden Zellen, zum anderen auch durch Zelltransplantationen, wofür auch Stammzellen interessant sein könnten.
In einer im Juli im Fachjournal „Nature Communications" veröffentlichten Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Schweizerischen Université de Fribourg konnte im Tierversuch mithilfe des Wirkstoffes Theophyllin, der unter anderem in Teeblättern vorkommt und in der Asthma-Behandlung längst Standard ist, eine Wiederherstellung der Myelinscheide nachgewiesen werden. Zuvor hatten schon Wissenschaftler der australischen Monash University belegen können, dass sich durch Stimulierung der Nervenzellen im Gehirn eine aktive Myelin-Neubildung erzielen lässt. Ein neues Forschungsfeld könnte die Hemmung der Fresszellen genannten Makrophagen sein, bei denen es sich ebenfalls um weiße, die Myelinhülle bei MS zerstörende Blutkörperchen handelt.
„Hit hard and early" ist eine der neuen Therapie-Strategien
Einen ganz neuen Ansatz, der nicht darauf abzielt, die entzündliche MS-Komponente zu unterdrücken oder die Myelinhülle zu regenerieren, sondern die Nervenzellen zu erhalten oder zumindest den Zellschaden zu begrenzen, haben Forscher des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in einer im Juni publizierten Studie vorgestellt. Die Forscher möchten einen speziellen Ionenkanal namens „Transient Receptor Potential Melastatin 4", den sie als einen ganz wesentlichen Faktor für das Absterben der Nervenzellen bei MS ausgemacht haben, künstlich blockieren. Ionenkanäle sind röhrenförmige Proteinbündel, die elektrisch geladenen Teilchen den Zugang zu einer Zelle ermöglichen. Die Suche nach einem geeigneten Blockade-Wirkstoff wird vom Bundesforschungsministerium gefördert werden. Im Erfolgsfall gäbe es erstmals die Möglichkeit, den Untergang von Nervenzellen zu verhindern.
Sind noch die Medikamente zu erwähnen, die seit der Zulassung des ersten, von der Berliner Schering AG 1993 entwickelten Mittels namens Betaseron immer zuverlässiger und wirksamer den Schweregrad der Schübe vermindern und das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen können. Die meisten neuen Arzneimittel richten sich mit verschiedenen Wirkmechanismen und Verabreichungsarten gegen die Funktion der fehlgeleiteten T- und B-Zellen als primärem Wirksamkeitsbereich. In der Therapiestrategie folgt man immer mehr dem Schlagwort „Hit hard and early", sprich nicht mehr mit einer behutsamen Basistherapie gefolgt von einer Eskalationstherapie beginnt, weil dieses früher übliche Prozedere die Gefahr einer möglichen anfänglichen Untertherapierung des Patienten bei fortschreitender Krankheit birgt, sondern gleich mit hochwirksamen Medikamenten eine Intensivtherapie zu starten. Bei dieser gibt es zwei Varianten: Bei der Induktionstherapie erfolgt die Medikamentengabe (Infusion oder Tabletten) nur über einen kurzen Zeitraum mit länger anhaltender Wirkung. Bei der Erhaltungstherapie müssen die Medikamente kontinuierlich zugeführt werden.
Große Erleichterung für Patienten brachte das Jahr 2011, als erstmals MS-Medikamente in Tablettenform auf den Markt gekommen waren, während bis dahin nur Injektionen möglich waren. Für die schwerwiegendste MS-Erkrankungsform, die sogenannte Progrediente Multiple Sklerose, bei der die Symptome vom Krankheitsbeginn an stetig und rasch fortschreiten, gibt es seit 2018 mit dem auf dem Antikörper Ocrelizumab basierenden Mittel namens Ocrevus erstmals eine Therapie-Möglichkeit. Es muss alle sechs Monate intravenös verabreicht werden. Künftig werden neben den MS-Standard-Medikamenten wie diversen Betainferon-Präparaten oder den hochwirksamen Arzneien Mavenclad (Wirkstoff: Cladribin), Gilenya (Fingolimod), Lemtrada (Alemtuzumab), Tysabri (Natalizumab) oder Ocrevus (Ocrelizumab) wohl auch noch neuroprotektive Medikamente (die das Nervenwachstum fördern sollen) sowie Präparate mit größerem therapeutischen Potenzial kommen, die zudem weniger Nebenwirkungen auslösen, über lange Zeit verträglich und einfach in der Verabreichung sein sollten. Auch an Arzneien mit Statinen oder Geschlechtshormonen wird derzeit geforscht. Neueste zugelassene MS-Arzneien sind Mayzent (Wirkstoff Siponimod) oder Zeposia (Ozanimod).