Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft nahm mit Ronald Reagan ihren Anfang. Davon ist Prof. Christoph Ribbat überzeugt. Der US-Kenner und Kulturwissenschaftler glaubt, dass Joe Bidens bodenständige Art einen Teil der Trump-Wähler überzeugen könnte.
Herr Professor Ribbat, was ist mit den USA los? So tief gespalten haben wir das Land noch nie gesehen.
Demokratie lebt davon, dass Menschen unterschiedliche und auch manchmal extreme Meinungen haben. Das ist bis zu einem gewissen Punkt auch produktiv und auch in den USA bislang gar nicht so beunruhigend. Das Seltsame und auch für die USA Untypische heute ist die extreme Distanz zwischen den Parteien. Im Kabinett von Präsident Barack Obama war zum Beispiel noch ein Republikaner Verteidigungsminister. Es gab diese lange Tradition der Zusammenarbeit unter den beiden Parteien, viel enger als in Europa. Politische Ideologien spielten keine große Rolle, eher das gemeinsame Lösen eines Problems. Was nun passiert ist: Manche Experten erklären dies durch das Vorwahlsystem, das extremere Kandidaten begünstigt. Wenige Leute gehen wählen, aber die, die wählen, haben oft extreme Ideen. Niemand im republikanischen Establishment wollte zum Beispiel Trump als Kandidaten. Aber in den Vorwahlen hat er, der extreme Typ, sich durchgesetzt. Auch die amerikanischen Medien haben sich in Richtung links und rechts entwickelt. CNN galt immer als Modell der neutralen Berichterstattung. Mittlerweile kann man schon sagen, dass sie tendenziell links orientiert sind.
Warum hat sich bei den Demokraten dann ein gemäßigter Joe Biden und kein progressiverer Kandidat durchgesetzt, der mehr Enthusiasmus erzeugt?
Das lag daran, dass Trump die Spielregeln geändert hat: Es galt, jemanden zu finden, der Trump Einhalt gebieten kann. Und man darf nicht vergessen, dass so jemand wie der neue progressive Star der demokratischen Partei, Alexandria Ocasio-Cortez, über bestimmte Nischen in den großen Metropolen hinaus nicht besonders viele Menschen erreicht.
Wo und wann nimmt denn diese extreme Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern ihren Anfang?
Das hat viel mit Religion zu tun. In den USA gelten 20 Prozent der Menschen als Evangelikale. Das ist eine riesige Wählergruppe. Der erste, der diese politische Kraft für sich entdeckte, war Ronald Reagan. Mit ihm begann das Wählen nach Werten und nicht so sehr nach politischen Konzepten wie bei uns. Diese hat auch Trump für sich gewonnen.
Warum wählen evangelikale Christen überhaupt einen Menschen, der viele ihrer Werte scheinbar mit Füßen tritt?
Die Kirche hat in den USA eine andere Bedeutung als bei uns. Ein Deutscher in mittleren Jahren läuft durch die Fußgängerzone, trifft dort Bekannte, geht mit ihnen einen Kaffee trinken oder engagiert sich vielleicht in einem Sportverein. Diesen öffentlichen Raum, den wir in Deutschland besitzen, gibt es in vielen amerikanischen Städten nicht. Dort ist die Kirche manchmal der einzige Ort, wo Leute zusammenkommen. Viele Menschen in den USA sagen: Ich bin in der und der Kirche „aufgewachsen" – es ist wirklich absolut prägend. Ich glaube nicht, dass alle Evangelikalen das glauben, was Trump sagt, aber viele aus der Gemeinschaft wählen ihn, dann wählt man ihn eben auch. Das Wichtigste war, dass Trump gemerkt hat, dass er dort Wählerstimmen gewinnen kann, wenn er sich gegen Abtreibung und für mehr konservative Richter positioniert.
Der evangelikale Erzkonservatismus in den USA hatte massiven Einfluss auf die Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikaner. Hat die Partei den Geist und die Ideologie dieser Bewegung mittlerweile absorbiert?
Ja, und deswegen haben die Republikaner eine totale Blockadehaltung in der Ära Obama eingenommen. Gleichzeitig war Obama aber auch kein Meister darin, Kompromisse zu suchen. Sehr klug, aber sehr abgehoben. Ein eher bodenständiger Mann wie Joe Biden an seiner Stelle hätte womöglich nicht den Friedensnobelpreis bekommen, aber er hätte es schaffen können, die Kluft zu den rebellischen Tea-Party-Leuten zu überbrücken.
Dann kam Donald Trump, mehr Entertainer als Politiker. Was machte ihn zum Präsidenten?
Der amerikanische Präsident funktioniert über das, was er der Nation sagt. Deshalb wird derjenige gewählt, dessen Worte die beste Geschichte erzählen. Obama hatte eine sehr gute, empathische Geschichte zu erzählen. Auch als Präsident. Anfang 2016 etwa gab es eines von unzähligen Schulmassakern an der Sandy-Hook-Grundschule. In einer Pressekonferenz dazu hatte Barack Obama Tränen in den Augen und fand die richtigen Worte, um den Schmerz zu beschreiben. Das war so ein präsidialer Moment: auszudrücken, was die Nation empfindet. Trump konnte in keiner Sekunde Mitgefühl ausdrücken. Aber auch seine Reden brachten Emotionen auf den Punkt: Stolz und Kampfgeist und so einen gewissen Zynismus, der auch in der amerikanischen Mentalität verankert ist. Dass er oft als Faschist bezeichnet wird, geht da wirklich zu weit. Das verharmlost nur wirkliche Faschisten.
Warum haben ihn aber dann 2020 noch mehr US-Amerikaner gewählt als vorher?
Schwierig. Was die Demokraten offenbar falsch gemacht haben, ist, anzunehmen, die Latinos würden automatisch demokratisch wählen. Nicht nur in Florida hat man gemerkt, wie falsch das war. Die eingewanderten Kubaner und Venezolaner denken bei dem Reizwort „Sozialismus", das ihnen die Republikaner ihnen in Verbindung mit den Demokraten eintrichterten, direkt an ihre Heimatländer. Es ist das Schlimmste für sie, also wählen sie die andere Seite, Donald Trump.
Joe Biden will diese Kluft überbrücken. Reichen dafür vier Jahre, bevor Trump wieder antritt?
Das Misstrauen der US-Amerikaner gegenüber dem Staat, das insbesondere Ronald Reagan instrumentalisiert hat, ist in den Köpfen vieler konservativer Wähler tief verankert. Er sagte: „Die neun angsteinflößendsten Worte in der englischen Sprache sind: I’m from the government and I’m here to help you." Es ist zwar widersinnig, der Institution am meisten zu misstrauen, die für ein Zusammenleben verantwortlich ist. Aber es ist eine der mächtigsten Ideen im amerikanischen Denken. Biden müsste es gelingen, dass Trump-Wähler der öffentlichen Hand, der Regierung wieder vertrauen. Die Corona-Krise bietet ihm dafür eine Chance: Wenn eine Biden-Regierung die Menschen dabei unterstützt, wieder auf die Beine zu kommen, wird das Vertrauen in Washington vielleicht zurückkehren.
Die USA haben ein großes Talent, sich immer wieder neu zu erfinden. Immerhin waren auch die Demokraten mal die Partei der Sklavenhalter. Sehen Sie positiv in die US-Zukunft?
Ich möchte an eine positive Zukunft glauben. Aber die Schere zwischen Arm und Reich, die sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter aufgetan hat, muss sich wieder schließen. Und dazu gehören auch die Demokraten, die mit ihrem oft elitären Auftreten auch zu der Spaltung der Gesellschaft beitragen. Das haben wir kürzlich wieder gesehen, als Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien, ohne Maske in ein Restaurant spaziert ist und 450 Dollar für ein Essen hingeblättert hat. Die Mitte aber hält die Gesellschaft zusammen. Dafür steht auch Joe Biden, weil er auch durch seinen Ursprung, seine Familie, eher der Mitte der Gesellschaft entstammt. Blickt man wieder zu Obama zurück, war da sicher eine Portion Alltagsrassismus gegen ihn zu spüren, aber vor allem hat viele wohl abgeschreckt, wie sehr er die amerikanische Elite verkörperte. Ein Harvard-Mann, unheimlich schlau, geradezu brilliant, charismatisch, aber auch professoral. Das hat viele US-Amerikaner auch abgeschreckt, völlig unabhängig von seinen kenianischen Wurzeln, weil sie eben nie diese Höhen erreichen können.
Vielleicht können sie sich ja mehr mit einem Menschen identifizieren, der auch Fehler und Schwächen hat. Wie eben Joe Biden.