Ein Finanzmanager als Hüttenchef? Tim Hartmanns Berufung zum machtvollen Vorstand der saarländischen Stahlindustrie rief anfangs Stirnrunzeln hervor. Im Laufe von zwei Jahren zeigte sich: In der Branche reicht ein Mann der Zahlen alleine nicht aus, um einen Stahlkonzern zu modernisieren.
Es war ein Paukenschlag: Tim Hartmann verlässt nach knapp zwei Jahren die Spitze der saarländischen Stahlhütten. Nach Angaben der Stahlholding Saar (SHS) herrschten unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die Dillinger Hütte und Saarstahl in die Zukunft geführt werden sollen – Unternehmen und Manager trennen sich „im Einvernehmen", wie es offiziell überraschend kühl heißt. Seinen Posten soll nach dem Willen der Muttergesellschaft, der Montanstiftung Saar, Karl-Ulrich Köhler übernehmen. Auf Nachfragen von FORUM wollte sich die SHS nicht weiter zu den Vorgängen äußern.
Die Unstimmigkeiten zwischen Hartmann und dem Kuratorium entzündeten sich an der unterschiedlichen Auffassung über den Konzernumbau und, laut dem Saarländischen Rundfunk, an Beraterverträgen. Das Stiftungskuratorium verlangte von Hartmann, dass er gleichzeitig alle Baustellen anpackt: die CO2-Neutralität, das Kostensenkungsprogramm, die Ausweitung der Vertriebstätigkeiten, Innovationen. Um externe Expertise in den Konzern zu holen, schloss man außerdem Beraterverträge ab – zu Kosten, die angesichts des Sparkurses im Konzern bei der Belegschaft nicht gut ankamen.
2018 trat Hartmann, der zuvor bei Banken und Energiekonzernen gearbeitet hatte, als bislang mächtigster Stahlmanager an der Saar an. Er führte nicht nur Dillinger Hütte und Saarstahl in Personalunion, sondern erhielt gleichzeitig den Vorsitz der Stahlholding. Damit wollte die Montanstiftung den Grundstein dafür legen, um mit einer starken Hand beide Schwesterunternehmen in Krisenzeiten wieder flottzumachen.
Komplettumbau angestoßen
Diesen Komplettumbau hatte Hartmann, der erste Mann auf dem Dillinger-Saarstahl-Chefsessel ohne vorherige Stahlkarriere, daraufhin wunschgemäß angestoßen: Wasserstoff ist nun erstmals im Einsatz, um die CO2-Bilanz des Unternehmens zu senken. Wirtschaftlich rentabel ist das nicht, aber ein Fingerzeig der Zukunft. Mit dem „Handlungskonzept Stahl" sollen nun 30 Milliarden Euro vonseiten der Bundesresgierung in die Neuausrichtung der deutschen Stahlindustrie fließen. An der Saar werden geschätzte drei Milliarden davon benötigt, noch stehen Verteilungskämpfe bevor. Weiterhin sollte Hartmann Dillinger Hütte und Saarstahl enger zusammenführen. Eine Fusion ist nicht möglich, solange der Stahlriese Arcelor Mittal noch 30 Prozent der Dillinger Hütte hält. Ende 2019 startete der Vorstand ein 250 Millionen Euro schweres Sparprogramm, dem auch 1.500 Arbeitsplätze zum Opfer fallen sollten – sozialverträglich, denn immerhin steht die Montanstiftung nicht nur sinnbildlich für den Erhalt der Stahlarbeitsplätze an der Saar.
An der Saar sollte nach dem Willen Hartmanns die modernste Stahlproduktion Europas entstehen. Dabei steht auch die saarländische Stahlindustrie unter hohem Wettbewerbsdruck. Nach wie vor produzieren Wettbewerber zu viel Stahl, drücken die Preise, während die Arbeitskosten im internationalen Vergleich hoch sind. Der Emissionshandel verzerrt aus Sicht der Industrie den internationalen Wettbewerb noch weiter. Hinzu kommt die Krise im Automobilbau, Hauptabnehmer der Erzeugnisse von Saarstahl. Schon 2019 mussten die Saar-Hütten 244 Millionen Euro Verlust vermelden – ein Katastrophenjahr, dem die Pandemie und weitere Auftragsrückgänge folgte. Die Folge: Die Stimmung auf der Hütte war am Tiefpunkt.
Den Arbeitsplatzabbau begründete Hartmann Ende 2019 gegenüber FORUM damit, die Unternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Zu diesem Zeitpunkt zeigten sich bereits die Risse: Die Gewerkschaften, die Betriebsräte, die Belegschaften murrten, es gibt nach wie vor Unstimmigkeiten zur Umsetzung des Plans. Die IG Metall kritisierte den Manager teils hart. Das in der Branche üblicherweise engere Miteinander von Management, Gewerkschaft und Belegschaft funktionierte im Verlauf des Jahres nicht mehr.
Lars Desgranges, IG-Metall-Gewerkschafter und Aufsichtsratsmitglied von Saarstahl, hält fest: „Arbeitsplatzabbau ist zu wenig, um die Stahlindustrie an der Saar zukunftsfähig zu machen." Hartmann habe einen guten Job in Sachen Finanzen gemacht, was ihm aber oft gefehlt habe, sei der Blick nach vorne. „Die Sichtweise war zu eng. Wir brauchen den Schulterschluss mit den Belegschaften, Gewerkschaften und der Politik, die deutsche Stahlindustrie muss die Herstellung von grünem Stahl vorantreiben und zugleich wettbewerbsfähig bleiben. Hierzu braucht es einen Markt für grün erzeugten Stahl. Diese Aufgabe gelingt nur im Zusammenspiel mit der Politik, den Gewerkschaften und den Beschäftigten, und dieses Gesamtkonzept haben wir zumeist vermisst." Stefan Ahr, Betriebsratschef von Saarstahl, bestätigt diese Sichtweise. „In 36 Jahren Zugehörigkeit zu der saarländischen Stahlindustrie habe ich bisher noch nie eine solche Herangehensweise an einen Strategieprozess erlebt. In der Vergangenheit war es immer eine Verhandlung und Kompromissfindung zweier Sozialpartner auf Augenhöhe. Die Mitbestimmung wurde geachtet und respektiert. Dies habe ich in der letzten Zeit so nicht wahrgenommen."
„Gesamtkonzept vermisst"
Die Stiftung zog nun Konsequenzen. Karl-Ulrich Köhler, seit 2019 bereits im Stiftungskuratorium, wird Hartmann ersetzen. Köhler ist ein alter Hase im Stahlgeschäft. 40 Jahre lang arbeitete er bei Thyssen Krupp, zuletzt als Chef der Stahlsparte. Ungeachtet seiner langen Erfahrung hat Köhler jedoch nicht nur Erfolge vorzuweisen. Er übernahm mit dem damaligen Thyssen Krupp-Vorstandsvorsitzenden Ekkehard Schulz die Verantwortung für das größte Missmanagement der Firmengeschichte – ein neues Stahlwerk in Brasilien, das nicht nur die europäischen Umweltgesetze umgehen konnte, sondern auch billiger produzierte. Letztlich ein Milliardengrab, das der traditionsreichen Stahlsparte des einstigen Weltkonzerns einen empfindlichen Schlag versetzte. Köhler musste 2009 gehen. 2010 übernahm er den Vorstandsvorsitz von Tata Steel Europe, der erfolgreichen europäischen Tochter des ursprünglich aus Indien heraus operierenden Montankonzerns Tata. Tata Steel Europe legte dem siechenden Konkurrenten Thyssen Krupp 2018 ein Übernahmeangebot für seine Stahlsparte vor. Die beiden Unternehmen waren sich bereits einig. Doch die EU-Kommission legte ihr Veto ein. Köhler wechselte daraufhin in den Vorstand von Rittal, einem deutschen IT-Systemanbieter, nach Hessen. Und nun der erneute Wechsel in die Stahlbranche: Seit 2019 sitzt Köhler bereits im Kuratorium der Montanstiftung Saar.
„Dr. Köhler ist sicherlich einer der erfahrenen Vertreter der deutschen Stahlindustrie, und wir sind erfreut, dass wir ihn für diese anspruchsvolle Aufgabe in einem überaus schwierigen gesamtwirtschaftlichen Umfeld gewinnen konnten", heißt es seitens Reinhard Störmer, dem Vorsitzenden des Kuratoriums. Köhler soll sich „umfassend mit der Weiterentwicklung der saarländischen Stahlindustrie" befassen – und dabei die Belegschaft, die Gewerkschaften besser einbinden als dies bisher geschehen ist. Diese Hoffnung hat jedenfalls auch Lars Desgranges. „Köhler kennt das Stahlgeschäft wie seine Westentasche, er braucht kaum Einarbeitung in die Branche. Wir dürfen aber von ihm keine Wunder erwarten."
Die erste Baustelle wartet schon: Der von Hartmann vor der Pandemie angestoßene Arbeitsplatzabbau könnte nun wie ein Bumerang zurückkehren. Denn die Auftragsbücher von Saarstahl füllen sich laut Lars Desgranges und Betriebsratschef Stefan Ahr wieder. „Es könnte sein, dass Saarstahl kommendes Jahr Volllast fährt", so Desgranges. Ahr beziffert das Auftragsvolumen im ersten Quartal auf 700.000 Tonnen – ein Drittel der Saarstahl-Jahresproduktion.
Und nun fehlen Arbeitskräfte. Das Projektgeschäft des Schwesterunternehmens Dillinger folgt der Konjunktur. Springt diese nach den pandemiebedingten Einschnitten erwartungsgemäß wieder an, sähe es dort ähnlich aus. Zumindest diese Aussicht könnte die 14.000 saarländischen Stahlarbeiter etwas beruhigen.