Besser als in diesem Jahr hätte es für Marco Müller und das „Rutz" eigentlich nicht laufen können: ein dritter Michelin-Stern, viele Auszeichnungen, noch mehr Reservierungen. Wenn nur das böse C nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte! Nun verpackt das Team den Wohlgeschmack und verwöhnt seine Gäste mit „Rutz to go" zum Jahresende.
Dieses Mal Ende Oktober ist es ein bisschen anders im „Rutz" als gewohnt. Mit der diplomatischen Freundin kehre ich auf ihr Abschiedsessen vor der Rückkehr in ihr Heimatland ein. Am selben Nachmittag hatte die Bundesregierung entschieden, dass ab Anfang November die Gastronomie erneut zu schließen habe. Obwohl absehbar, ist letzteres ein Schlag für alle Beteiligten. Nur eines ist nicht anders – die Herzlichkeit, mit der wir im „Rutz" empfangen, durch Menü und Getränkebegleitung geleitet und mit der wir mit Chef Marco Müller und Sommelière Nancy Grossmann sprechen. Das Essen ist seit dem letzten Besuch vor immerhin drei Jahren noch ausgefeilter geworden, und es ist inzwischen sogar durch drei Michelin-Sterne geadelt worden.
Das Essen ist noch ausgefeilter
Die Raffinesse, mit der eigentlich ganz schlichte und nahe Zutaten von persönlich bekannten Produzenten durchdacht und in filigrane Teller transformiert werden, zeigt sich am beeindruckendsten im fünften der acht Gänge des „Natur und Aromen"-Menüs. Gewiss trägt dazu bei, dass der lautere Teil-Gang „5b" mein Liebling ist. Ein Kohlrabi wird im ersten Part „5a" feingehobelt, im eigenen Saftt mariniert und mit Molke und weißer Johannisbeere verbunden. Die Begleiterin darf mit einem hundertprozentigen Pinot-Sekt von Griesel von 2016 dazu „erst einmal etwas für den Kreislauf tun", wie Nancy Grossmann ankündigt. Ich lasse mich alkoholfrei begleiten und erhalte einen Johannisbeeren-Auszug, der mit Amazake und Goji-Sporen angereichert wurde. Zu dem weiß-grün aquarellierten Kohlrabi-Kranz spielt die Beere im Glas ihre Frische aus.
In „5b" gibt’s eine Erweiterung in mehreren Tropfen: Nancy Grossmann träufelt Haselnussöl und damit „the power to go with the kohlrabi" in mein Glas. Über dem Kohlrüben-Taler mit karamellisierter Butter und einem dreijährigen Brot-Miso schwebt eine schwarze, durchbrochene, hauchzarte Chip-Scheibe vom hauseigenen Krustenbrot. „Und nun nur noch kaputtmachen und Spaß haben", fordert uns Restaurantleiter Falco Mühlichen auf. Nein, wir fotografieren die Brothippe nicht weich! Wir wollen schließlich nicht riskieren, uns um den Crunch und die cremig-buttrig-vollmundige Kraft der Knolle im Schälchen zu bringen. Hier wärmt uns der Herbst aus der Schale an, während zuvor verdichteter Spätsommer auf dem Teller lag.
Miso, Garum, Alge – das herbstliche Inspirationsmenü lässt immer wieder Umami aufblitzen, den „köstlichen Geschmack", wie die herzhaft-vollmundige Note auf Japanisch bezeichnet wird. Ein Dorschfiletstück im zweiten Gang darf in ein Kombu-Algenblatt gewickelt auf einem Holz-Stein-Bett kurz „Hallo!" sagen. Dann unterzieht es sich in der Küche einer Metamorphose und kehrt in Gesellschaft von Holunderblüten und Walnuss als Fisch-Praline zu uns zurück. Die Algenbinde bleibt in der Küche, der Fisch wird nur darin gegart. Uns verwundert nicht, dass selbstgemachtes Garum – quasi die antike römische Fischsauce – der Namensgeber des vierten Ganges ist, noch vor der optisch viel präsenteren Ochsenherztomate. Letztere darf ihr eigenes Umami beisteuern und sich als prachtvolle rote Kuppel gemeinsam mit grünem Wacholder über den Teller wölben. Die Freundin und ich sind beglückt: „Das ist das erste Mal, dass ich so eine große Sorgfalt im Umgang mit kleinsten Details erlebe", sagt die Freundin. „Das Menü ist wie ein fein gearbeitetes Geschmeide", sage ich und lasse mich zu einem Kurztrip in die Food-Poesie verleiten.
Ein Menü wie ein feines Geschmeide
Ich beglückwünsche mich für meine Entscheidung, mit dem Auto nach Mitte gekommen zu sein. Ich verzichte auf die „Rutz Rebell"-Editionen und andere spannende Weine, die Nancy Grossmann zu den Gerichten kombiniert. Stattdessen darf ich in Kombinationen aus verflüssigten Beeren, Gemüsen, Stielen und Knospen eintauchen. Alles ist leicht, fein, weit entfernt von der Schwere üblicher Säfte. Ein weißer Tee etwa ist Grundlage für das Getränk zum Garum-Tomaten-Gang, der mit Stachelbeersaft und Liebstöckel verfeinert wird. Letzterer klopft dezent an und ist die Klammer zum Umami des Essens. Nancy Grossmann folgt in ihrer Getränke-Auswahl der Philosophie des herzlichen Umarmens: „I like to surround the dish, not to overtone it." Kürzlich erst umfing sie wiederum der Gault-Millau mit einer der höchsten Auszeichnungen: Er kürte Nancy Grossmann zur „Sommelière des Jahres 2020". We like!
Besser als in diesem 20. Jahr seines Bestehens hätte es für das „Rutz" eigentlich nicht laufen können: Überraschend kam der dritte Stern des Guide Michelin im Frühjahr. Kurz vor dem ersten Lockdown im März erreichte dieser Anruf aller kulinarischen Anrufe Marco Müller. Nicht nur das 19-köpfige Team um Müller legte vier Jahre nach dem zweiten mit dem dritten „Macaron" nach, sondern auch Berlin bekam sein erstes Drei-Sterne-Restaurant! Das „Rutz" konnte sich vor Anmeldungen für die 24 Plätze gar nicht retten. Eine gute Woche später waren die Restaurants coronabedingt geschlossen. Ein Glück, dass sich die „Weinbar Rutz" aus dem Erdgeschoss plangemäß in das neue „Rutz Zollhaus" umtopfen und nach dem ersten Lockdown dort eröffnen konnte. So konnten parallel sämtliche Plätze nach den neuen Abstandsvorschriften im „Rutz" an der Chausseestraße oben, unten und auf der Terrasse erhalten und besetzt werden. Die bodenständigere „Rettung der deutschen Esskultur" à la „Weinbar" schreitet seither mit viel Platz und Grünfläche im „Zollhaus" am Landwehrkanal voran. Erst kürzlich bestätigte Gault-Millau seine 18 Punkte fürs „Rutz".
Hatten im Lockdown I die Stammgäste dem „Rutz" die Treue gehalten, zahlreich Gutscheine und „Rettungsschirme"
gekauft, setzt das Team nun auf Gänse und Enten sowie auf kulinarische erste Hilfe für Silvester in größeren Dosen und Paketen. „Der Spaß fängt beim Zubereiten an", lautet Marco Müllers Devise. Damit der für die zum Finishing aufgeforderten Gäste in der heimischen Küche nicht gar zu groß wird, legt das „Rutz"-Küchenteam vor: Zu Oldenburger Gans oder Ente aus glücklichem Freilauf kommen Thüringer Klöße, Saucen aus purem Extrakt sowie Rotkraut und Grünkohl „so wie man ihn von zu Hause kennt" in die Boxen. „Ein Drittel vom Grünkohl frittieren wir. Das gibt die schönen Röstaromen", verrät Müller.
Wer bislang nicht so viel mit wuchtigen Hausmannskost-Gerichten oder allzu viel Tradition anfangen konnte, sollte damit unbedingt auf Müllerschem Niveau anfangen. Hier wäre eine gute Gelegenheit dazu! Eine Flasche Rotwein als passgenau abgestimmtes Kaltgetränk und eine Bedienungsanleitung liegen bei. Die 100 Flattermänner je Sorte können für 199 Euro für die Gans sowie für 109 Euro für die Ente vorbestellt werden.
Battle Glühwein/Wildquitten-Punsch
Wer es an Silvester auf die luxuriösere „Rutz"-Art krachen lassen will, ist mit dem „Man-gönnt-sich-ja-sonst-nichts"-Paket mit Kaluga-Kaviar vom Stör, Wodka und abgeschmeckter Crème fraîche, Rote-Bete-Tatar und gebutterten Brotscheiben zum Ausbraten gut beraten. Heraus kommt beim DIY zum Jahresende im Idealfall ein Tatar-Türmchen mit Wodka-Crème-fraîche und Kaviar-Haube. Die überbordende Stimmung nicht zu vergessen! Die ist mithilfe der beigelegten Wunderkerze, Tischfeuerwerk und Papierschlange zu erzeugen. Eine „geile Pulle Champagner", so Müller, ein Aurore Casanova, mag das Ihre tun. Nur 160 Flaschen waren deutschlandweit zu bekommen. Das „Rutz" kaufte sie exklusiv auf und legt jeweils eine dem „Kaviar to go"-Paket für 299 Euro bei.
Auf den „richtigen" Kontakt mit den Gästen im Restaurant wird das Team wohl noch eine Weile verzichten müssen. Aber „Rutz"- und „Rutz Zollhaus"-Crew haben sich eine Möglichkeit einfallen lassen, um Gäste und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder einmal „in echt", kurz und regelkonform aufeinandertreffen zu lassen.
An diesem Wochenende treten vor dem „Rutz Zollhaus" in Kreuzberg „Zollhaus"-Sommelier Hendrik Canis und „Rutz"-Sommelière Nancy Grossmann beim „Glühwein gegen Wildquitten-Punsch"-Battle in Rot und Weiß gegeneinander an. Die Gäste dürfen aus den To-go-Bechern heraus ihre Favoriten bestimmen. Wollschwein-Rippchen werden vor Ort aus dem Smoker und zum Auf-die-Hand-Essen gezupft.
Wer lieber zu Hause speist, kann sich ein Rippchen-Paket nach Hause mitnehmen oder sich mit Salami oder „Raumland"-Sekt eindecken, um die nächste „Rutz"-lose Zeit unbeschadet und mindestens mit Kleinigkeiten wohlversorgt zu überstehen.