„Welt – Bühne – Traum. Die ,Brücke‘ im Atelier" heißt die Ausstellung, die, sobald es die Corona-Verordnungen zulassen, in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums eröffnet wird. Die Vorfreude darauf wird verlängert – mutmaßlich bis zum 10. Januar.
An einem grauen Novembertag wird mir Besonderes zuteil. Eine Pressebesichtigung im Museum ist nichts Ungewöhnliches. Eigentlich. In diesen Zeiten allerdings schon. Die Direktorin Dr. Andrea Jahn – seit Juli im Amt – und die stellvertretende Leiterin des Saarlandmuseums, Dr. Kathrin Elvers-Svamberk, die gleichzeitig die Kuratorin der Ausstellung ist, öffnen die Türen, um die Schätze des Museums zu zeigen. Ein großformatiger Schatz leuchtet den Eintretenden farbgewaltig entgegen. Zwar möchte ich geradewegs auf das Gemälde zustürmen, bleibe aber artig stehen. Die Atmosphäre des Raumes umfängt stimmungsvoll. Die Wände und Stellwände, in einen warmen Rotton gekleidet, die Lichtspots auf die Kunst gerichtet, verwandeln den Raum in einen Festsaal.
Ich erkenne, dass das großformatige Werk das berühmte Gemälde „Badende im Raum" von Ernst Ludwig Kirchner ist, das 1960 für die Sammlung des Saarlandmuseums erworben wurde. Ein riesiger Rahmen, der beinahe mitten im Raum steht, öffnet den Durchblick auf das zentrale Werk. Bald machen Sitzkissen den Rahmen zudem zur Bank, erfahre ich von der Kuratorin. Kunstgenießer werden dort verweilen – bald!
Atmosphäre ist stimmungsvoll
Mittlerweile habe ich verstanden, dass ich nicht durch den Rahmen hindurchspringen kann, um rasch das Monumentalwerk näher in Augenschein zu nehmen, auch gar nicht soll. Eine Ausstellung ist gleichzeitig eine Inszenierung. Zwischen der Betrachtung anderer Werke eröffnet der Durchblick immer wieder den Bezug zu Kirchners „Badende im Raum". Das ist die Konzeption, wie mir Kathrin Elvers-Svamberk erläutert, und die sich erschließt, wenn man dem Parcours folgt. Ausgewählte Werke vier bedeutender Künstler – Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Max Pechstein – werden in einen Zusammenhang gesetzt, der ihr Schaffen erfahrbar macht. Das Maler-Quartett war befreundet und trat als Kollektiv „Brücke" – zeitweise mit weiteren Kollegen – öffentlich in Erscheinung. 1905 in Dresden gegründet, löste sich die Künstlergemeinschaft 1913 auf.
Was wollten diese Künstler? Hatte die „Brücke" eine Programmatik? Ein prägnanter Saaltext gibt Auskunft: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend zusammen. Und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt."
Was die Künstler zum Schaffen drängte, für welche Themen sie sich begeisterten, das offenbart sich in dieser fein durchdachten Ausstellung, an der die Kuratorin zwei Jahre gearbeitet hat, wobei die Idee, wie sie berichtet, bereits 2008 aufkeimte. Beinahe ein Kuriosum ist, dass die „Arm- und Lebensfreiheit" ausgerechnet auf kleinstem Raum ausgelebt wurde, geradezu drängt sich eine Parallele zur derzeitigen Corona-Zeit auf – wenngleich mit umgekehrtem Vorzeichen.
Was wollten die Brücke-Künstler?
„Die ,Brücke‘ im Atelier" lautet die Titelerweiterung der Ausstellung. Das Atelier war nicht nur Arbeitsort und Lebensraum für die „Brücke"-Künstler, sondern weitaus mehr. Die Kunsthistorikerin macht auf eine Postkarte aufmerksam, die, mit Tuschfeder gezeichnet, Kirchner 1909 an seinen Freund Erich Heckel schickte. Sie zeigt den nackten Künstler bei seinem Freudentanz anlässlich des neu bezogenen Wohnateliers in der Erdgeschosswohnung der Berliner Straße 80 in der Dresdner Friedrichstadt. Anrührend wirkt die Szenerie im Kleinformat. Das Wohnatelier misst 26 Quadratmeter. Es wird zum Ort gemeinschaftlichen Erlebens und wechselseitiger Inspiration, als auch zum Ort, um neue Lebensformen auszuloten.
Mit dem Akt beschäftigen sich die Künstler eingehend, suchen sie doch die Ungezwungenheit und das Miteinander mit Freundinnen und Lebenspartnerinnen, die ihre Modelle sind. Sie erfinden den „Viertelstundenakt", wollen das Wesentliche so zügig als möglich erfassen, überbieten sich in der Geschwindigkeit des Malvorgangs und darin, ihre Skizzenbücher zu füllen. Geschickt sind die Werke neben und sogar übereinander gehängt, um dem Besucher diese Idee nahezubringen. Die Körper erscheinen teils grotesk verdreht, aber in ihrer Merkwürdigkeit höchst dynamisch. „Yoga!" Auch unter FFP2-Masken kann man lachen.
Nicht zum Lachen ist, wenn man die Kindergesichter von Fränzi und Marzella im Atelier betrachtet. Die nackten Mädchen schämen sich. Das Tun dieser Männer wirft Fragen auf. Das Aufblühen der Sexualität und die unverfängliche Kindlichkeit hat die Künstler interessiert. Fränzi ist das am meisten gezeichnete Kindermodell. Die Minderjährigen sahen in dem Atelier, was nicht für Kinderaugen bestimmt sein kann, denn die Einrichtungen fertigten die Künstler nach eigenen Entwürfen. Archaische Liebespaare zierten Wandbehänge, Sitzgelegenheiten, Paravents oder Türrahmen. Möbel, Textilien und Hausrat waren eigenhändig gezimmert, bemalt und geschnitzt. Auch Artefakte aus außereuropäischen Kulturkreisen galten dabei als wichtige und vorbildhafte Inspirationsquelle. Weitere Kapitel der Ausstellung heißen demzufolge „Das Atelier als Bühne" und „Exotismen".
Aber zuerst: Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Badende im Raum" (1909–10/nach 1926). Die Jahresangaben verraten, dass der Künstler dieses Schlüsselwerk nachträglich umgestaltet hat. Auf der Wand entspinnt sich ein groß angelegtes Erklär-Werk: „Badende im Raum unter die Lupe genommen": Die kunsthistorische und konservatorisch-restauratorische Forschung zu diesem Werk wird offenbart – ein Krimi, in den einzutauchen wirklich Vergnügen bereitet.
Durch das Kunstbetrachten und das immer wiederkehrende Atelier-Motiv hat sich in meinem Kopf einiges zurechtgepuzzelt. Den Vorteil, Kathrin Elvers-Svamberk an der Seite zu haben, nutze ich und frage die Expertin rundheraus: Ist das fertig gemalt? Die nackten Damen füllen das Gemälde, aber am rechten Bildrand schwebt ein bärtiger Kopf – in Schlieren läuft die Farbe an ihm herab. Die Expertin antwortet: „Das ist eine bewusste kompositionelle Entscheidung, Kirchner hat es signiert und in seinen Bildbestand eingegliedert." Ich schaue ungläubig. „Es ist sehr rätselhaft. Eine eigentümlich maskenhafte Kopfgestalt. Man darf Zweifel haben, dass es immer ein Mann war", erklärt die Kunsthistorikerin. Die Forschungsarbeit hat bis dato Verblüffendes zutage gebracht.
Als „Brücke"-Schlüsselwerk besitzt dieses Gemälde für die Museen dieser Welt hohe Attraktivität. Anfragen, das Werk als Leihgabe herauszugeben, mussten immer abschlägig beschieden werden. Der schlechte Zustand untersagte den Badenden im Raum das Reisen. Das soll sich ändern, erfahre ich. Diese Ausstellung – wie viele vorherige dieser Größenordnung – ist wiederum nur möglich, wenn andere Museen Werke ins Saarland senden. Die Ausstellung „Welt – Bühne – Traum. Die ,Brücke‘ im Atelier" präsentiert 112 Exponate, davon 30 aus Eigenbesitz.
In zahlreichen Kunstbänden ist die Abbildung „Badende im Raum" vertreten. Wird das Original auf der internationalen Bühne wieder sichtbar, wird es gleichzeitig zum Botschafter des Saarlandes. Schaue ich gerne aufs Täfelchen, um herauszufinden, wo ein Werk herkommt, tun andere das auch.
Farbintensität und Perspektive überzeugen
In der Abteilung „Das Atelier als Bühne" steht ein Ölgemälde im Raum, weil Max Pechstein die Leinwand beidseitig bemalt hat. „Inder und Frauenakt" von 1910 zieht den Blick wegen Perspektive und Farbintensität auf sich. Auf der Rückseite lässt sich ein Früchtestillleben erkennen. Auf einigen Fotografien, die Kirchner von seinem Atelier selbst aufgenommen hat, ist der in Batiktechnik gestaltete Medaillon-Vorhang zu entdecken, der, wie ein Bühnenrequisit verwendet, die Modelle in Szene setzt.
Im Kapitel „Exotismen" zeigt sich, dass die „Brücke"-Künstler von der Farb- und Formvielfalt außereuropäischer Kunst fasziniert waren. Der Saaltext vermerkt: „Das „fremde" Leben kannte auch die „Brücke" nur aus Zirkus und Völkerschau – und auch ihr Schaffen trug unausweichlich zur Weiterverbreitung ethnischer und rassistischer Stereotype bei." Erstaunlicherweise begegnen wir Fränzi in diesem Kapitel erneut: Erich Heckel porträtierte sie um 1910, eine Tuschfederzeichnung. Das weiche Kindergesicht ist maskenhaft erstarrt und verfremdet.
Kunst muss nicht gefällig sein. Kunst muss nicht gefallen. Manch einer fordert, sie darf es nicht. Das Betrachten von Kunst konfrontiert uns. Mit uns selbst. Mit anderen. Deshalb ist diese Ausstellung spannend.