Die Pandemie zwingt zu Entscheidungen, die bisher Selbstverständliches in Frage stellen. Was ist in der jeweiligen Situation und Entwicklung wichtiger? Dahinter stehen in der Krise grundlegende ethische Abwägungen.
Das Corona-Jahr 2020 ist ein Jahr neuer Erkenntnisse. Der aktuelle zweite Lockdown ist eine der Erfahrungen, die uns in den vergangenen mehr als sieben Jahrzehnten erspart geblieben ist.
Damit wirft dieses Jahr auch Fragen auf, mit denen wir uns hierzulande und in Europa zumindest in dieser Form lange nicht beschäftigen mussten. Mehr als je zuvor sucht nicht nur, aber vor allem die Politik Expertenrat, um sich bei der oft zitierten „Fahrt auf Sicht" zu orientieren.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat im ersten Lockdown mit einem bemerkenswerten Beitrag für Aufsehen gesorgt. Zu der Feststellung, alles müsse in der Pandemie vor dem Schutz des Lebens zurücktreten, konstatierte der CDU-Politiker: „Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig." Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, sei das die Würde des Menschen. Folglich müssten auch „die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen" bedacht werden, wird Schäuble zitiert.
Damit war das Feld geöffnet für eine grundlegende Diskussion in einer Zeit, in der nichts mehr so selbstverständlich ist wie es zuvor erschien. Nach welchen Kriterien und Maßstäben sollen Entscheidungen getroffen werden? Etwa im Krankenhausbereich alles auf den Corona-Notfall einrichten, dafür andere Behandlungen zurückstellen? Auch die Frage nach der Triage bei möglichen Überlastungen, was nach den Bildern aus Italien, Spanien und den USA nicht auszuschließen war, stand im Raum, also die Frage, welche Patienten zuerst behandelt werden sollten, wenn Kapazitäten knapp werden. Oder die Frage der sozialen Auswirkungen eines Lockdowns.
Es war somit schon sehr früh klar, dass die Pandemie weit mehr grundlegende Fragen aufwarf und aufwirft als bislang bekannte Krisen.
Damit war auch ein Gremium gefragt, das üblicherweise bei hochkomplexen Themen und teilweise sehr speziellen Fragen zur Stellungnahme gefordert war: der Deutsche Ethikrat.
Stellung beziehen und Diskussionen fördern
Öffentlich wahrgenommen wurde er in der Vergangenheit etwa, wenn es um Entscheidungen zum Eingriff in menschliche Keimbahnen, um Präimplantationsdiagnostik oder Organspende und Hirntod ging. Auf der Liste der Themen finden sich aber auch Patientenwohl als ethischer Maßstab oder aus dem vergangenen Jahr, also noch vor Corona, eine Stellungnahme zur Impfpflicht.
Die Pandemie in diesem Jahr hat eine ganze Reihe sehr grundsätzlicher Fragen aufgeworfen, was das Verhältnis und die Abwägung von Werten betrifft.
Solche Fragen in Zusammenhang mit den Einschränkungen von Grundrechten sind zwar auch in einer Vielzahl von Gerichten zu entscheiden. Gerichte beurteilen aber jeweils nur einen speziellen Fall eines Klägers und wägen ihn unter juristischen und anderen Gesichtspunkten des jeweiligen Falls ab. Was dann durchaus auch je nach Fall und Zusammenhang zu unterschiedlichen Beurteilungen (bei ansonsten gleichen gesetzlichen Regeln) führen kann.
Die Erwägungen des Ethikrats sind grundsätzlicher und sie sind keine Entscheidungen, wohl aber Entscheidungshilfen, wenn sie auf grundlegende Zusammenhänge verweisen. So beispielsweise in der Stellungnahme zur Impflicht, bei der es im vergangenen Jahr noch um die Masernimpfung ging. Allerdings heißt es dort bereits grundsätzlich, Impfen gegen eine hochansteckende Krankheit sei „keine reine Privatsache", jede Person sei „moralisch verpflichtet". Daraus folge keine allgemeine staatliche Impfpflicht, allenfalls sei das für bestimmte Personengruppen zu prüfen. An der Einschätzung dürfte die aktuelle Situation wenig geändert haben.
Gefragt war die Einschätzung des Ethikrats zuletzt in der Frage, wer bei zunächst knappem Impfstoff gegen Corona zuerst drankommen soll, also eine Priorisierung. Die war zunächst in Deutschland wenig strittig, andere Länder sind aufgrund von Abwägungen ethischer und praktischer Argumente aber zu anderen Entscheidungen gekommen.
Nun ist der Ethikrat nicht die Institution in Sachen Ethik schlechthin, auch wenn sich in dem Gremium ein Querschnitt der unterschiedlichsten Wissenschaften sowie Rechtswissenschaftler, Theologen und Philosophen versammelt. Auf Anfrage oder Eigeninitiative beraten ist das eine, das andere, mindestens ebenso wichtige Anliegen aber ist, diese Fragen zu einer breiten öffentlichen Diskussion zu führen.
Das Corona-Jahr hat dafür ausreichend Vorlagen gegeben.