Auf der ältesten Kunsteisbahn der Welt kämpft die Rodler-Elite vom 29. bis zum 31. Januar um den WM-Titel. Wobei in den drei klassischen Disziplinen die deutschen Athleten zu den großen Favoriten zählen, wie die Generalprobe am Königssee Anfang des Jahres gezeigt hatte.
Es gibt kaum eine andere Sportart, in der die Dominanz deutscher Athletinnen und Athleten über Jahrzehnte hin so groß war wie im Rennrodeln. Die hiesigen Kufenflitzer fuhren mit dem Rest der Welt Saison für Saison regelrecht Schlitten. Egal ob bei Weltcups, Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften, das Podest war regelmäßig fest in deutscher Hand. Doch in der Saison 2019/2020 war es plötzlich mit der deutschen Vormachtstellung im internationalen Rodelsport vorbei. Bei den Damen war das keine große Überraschung, da die frühere Olympiasiegerin Tatjana Hübner ihre Karriere beendet hatte und sich die beiden langjährigen Sieg-Garantinnen Natalie Geisenberger und Dajana Eitberger eine Babypause nahmen. Deshalb musste der Nachwuchs in die Bresche springen, und Julia Taubitz bekam das mit Platz eins in der Weltcup-Gesamtwertung und WM-Silber in Sotschi auch ganz ordentlich hin. Das größte Sorgenkind im Team von Bundestrainer Norbert Loch sollte der Herrenbereich werden, wo sein erfolgsverwöhnter Sohn Felix regelmäßig auf für ihn indiskutablen hinteren Plätzen gelandet war und lediglich Johannes Ludwig mit drei Saisonsiegen und Platz vier in der Weltcup-Gesamtwertung die Ehre der deutschen Rodler noch einigermaßen retten konnte. Einzig bei den Doppelsitzern blieb die deutsche Dominanz ungebrochen, wobei sich die Tandems Toni Eggert/Sascha Benecken und Tobias Wendl/Tobias Arlt regelmäßig auf dem obersten Treppchenplatz ablösten.
Zu viel an den Schlitten herumexperimentiert
In den hiesigen Medien wurde seinerzeit schon das Ende der deutschen Rodel-Vormachtstellung konstatiert und über die Gründe für diese unerfreuliche Entwicklung reichlich spekuliert. Offenbar hatte man speziell im Herrenbereich zu viel an der Schlittentechnik herumexperimentiert und durch Umstellungen an der Geometrie der Laufschiene einen fatalen Geschwindigkeitsverlust produziert. „Wir haben in der Materialstrategie eine falsche Richtung eingeschlagen", musste Thomas Schwab, der Generaldirektor des Bob- und Schlittenverbandes für Deutschland (BSD), Anfang 2020 zerknirscht einräumen. Bundestrainer Loch wollte den damaligen Rückschlag nicht allein mit der Schlittentechnik erklären, sondern verwies darauf, dass die internationale Konkurrenz auch dank ins Ausland abgewanderter deutscher Trainer gehörig aufgeholt habe und der frühere Heimvorteil mit gleich vier hiesigen Eiskanälen in Winterberg, Altenberg, Oberhof und Königssee wegen der Vielzahl der dort ausgetragenen Veranstaltungen längst nicht mehr vorhanden sei. Auch Kritik an der Nachwuchsarbeit wurde gelegentlich laut, weil die gesetzten und erfolgreichen Platzhirsche Loch, Geisenberger und Co den durchaus vorhandenen deutschen Talenten dauerhaft den Sprung auf die Weltcup-Bühne verwehrt hatten. Zwar war dem BSD dieses Problem grundsätzlich bewusst, weshalb man im Zuge eines kleinen Rotationsverfahrens dem Nachwuchs gelegentlich Kurzeinsätze im Weltcup ermöglicht hatte. Doch diese Strategie reichte nicht aus, um die Talente nachdrücklich an die Weltspitze heranführen zu können.
Alles Schnee von gestern. Denn mit dem Start in die Weltcup-Saison 2020/2021 gelang den deutschen Rodlerinnen und Rodlern auf beeindruckende Weise eine Rückkehr in die Erfolgsspur. Wobei vor allem die triumphale sportliche Wiederauferstehung von Felix Loch überraschte, der bei sieben Starts gleich sechsmal die Nase vorn hatte. Der neue alte Dominator gewann sämtliche sechs klassischen Einsitzer-Wettbewerbe bis zum Sigulda-Weltcup am 9. Januar. Selbst im Sprint konnte er beim Weltcup-Auftakt in Innsbruck Ende November den Sieg davon tragen. Nur in Winterberg musste er sich kurz vor Weihnachten im Sprint seinem jungen Teamkollegen Max Langenhahn geschlagen geben und mit Platz fünf Vorlieb nehmen.
Geisenberger auf Platz eins in der Gesamtwertung
Und bei den Damen mischten die Rückkehrerinnen Geisenberger und Eitberger das Teilnehmerfeld wieder gehörig auf. Wobei Geisenberger bis Sigulda in allen Wettkämpfen gleich achtmal als Zweitplatzierte ins Ziel gekommen war, darunter auch Platz zwei im Sprint von Altenberg Anfang Dezember und zwei Wochen später im Sprint von Winterberg. Dadurch konnte sie in der Gesamtweltcup-Wertung Platz eins erklimmen. Eitberger konnte währenddessen Mitte Dezember in Oberhof triumphieren sowie als Drittplatzierte das Podium in Innsbruck als auch im Sprint von Winterberg erobern. Julia Taubitz schockte die teaminterne Konkurrenz mit ihren Doppelsiegen in Innsbruck und Winterberg im Einsitzer und beim Sprint – und konnte in das Jahr 2021 auch mit einem Erfolg am Königssee starten.
Die sieggewohnten Doppelsitzer hatten einen vergleichsweise holprigen Saisonstart. In Innsbruck mussten sich Eggert/Benecken mit Platz drei begnügen, im Sprint glänzten die deutschen Tandems sogar durch komplette Abwesenheit auf dem Podest. Auch in Altenberg reichte es nur für Platz zwei (Eggert/Benecken) und drei (Wendl/Arlt). Erst in der dritten Weltcup-Station Oberhof gelang Eggert/Benecken der erste Saisonerfolg, um danach auch in Winterberg im Sprint und am Königssee in der klassischen Disziplin die Spitzenposition zu erringen. Beim Sieg von Wendl/Arlt in Winterberg mussten sie sich mit Platz zwei begnügen. Wendl/Arlt konnten weitere Podiumsplätze in Winterberg (Platz drei im Sprint), am Königssee (Platz zwei) und in Sigulda (Platz zwei) einfahren. In der Weltcup-Gesamtwertung rangierten die beiden deutschen Doppelsitzer dennoch nur hinter den Österreichern Thomas Steu/Lorenz Koller auf Platz zwei (Eggert/Benecken) und drei (Wendl/Arlt). Auch das lettische Geschwister-Tandem Sics, zuletzt Sieger auf seiner Heimbahn in Sigulda, setzt die führenden Teams unter Druck.
Dennoch scheinen nicht nur die deutschen Doppelsitzer, sondern vor allem auch die Einsitzer der Damen und Herren für die WM vom 29. bis zum 31. Januar auf der Kunsteisbahn am Königssee gerüstet zu sein, die neben 18 anspruchsvollen Kurven auch noch über einen schwierigen, „Turbodom" getauften Kreisel verfügt. In allen drei klassischen Disziplinen sind die deutschen Starter die absoluten Top-Favoriten. Was durch die WM-Generalprobe an selber Stelle im Rahmen des Weltcups am 2. und 3. Januar mit Siegen von Felix Loch, Julia Taubitz und Eggert/Benecken untermauert wurde. Vor allem Felix Loch dürfte in seiner aktuellen Bestform unschlagbar sein, zumindest im klassischen Einsitzer-Wettbewerb. Beim Sprint darf man gespannt sein, ob Bundestrainer Loch dem aufstrebenden Max Langenhahn, der in Altenberg auch im Einsitzer-Klassiker mit Platz zwei auf sich aufmerksam gemacht hatte, eine Chance geben wird. Neben Felix Loch hat der BSD mit Johannes Ludwig noch ein zweites heißes Eisen im Feuer. Ludwig konnte in der aktuellen Weltcup-Saison mit zweiten Plätzen in Innsbruck, Oberhof und Sigulda überzeugen, dazu noch einem dritten Platz am Königssee. Im Kampf um die Podestplätze könnten auch die Österreicher Dominik Fischnaller und Nico Gleirscher oder die Russen Roman Repilow, Weltcup-Gesamtsieger der Vorsaison, und Semjon Pawlitschenko ein Wörtchen mitreden wollen.
Deutsche Teamstaffel mit Fahrfehlern
Bei den Damen dürfte der WM-Sieg nur über das Trio Geisenberger, Taubitz und Eitberger führen. Allerdings hat die Russin Tatjana Iwanowa nach ihrem Sieg in Altenberg bei ihrem jüngsten Triumph in Sigulda stark aufsteigende Form bewiesen und muss daher neben ihrer Mannschaftskameradin Wiktoria Demtschenko zu den schärfsten Konkurrentinnen des deutschen Rodel-Trios gerechnet werden. Die Österreicherin Madeleine Egle nicht zu vergessen.
Etwas enttäuschend war bislang das deutsche Abschneiden bei der Weltcup-Teamstaffel. Was für die WM einige Fragen offen lässt. Zwar konnte Deutschland diese Disziplin in Innsbruck und Oberhof für sich entscheiden, aber es gab auch durch Fahrfehler bedingte Rückschläge wie in Altenberg, wo es das deutsche Team nicht einmal aufs Podest schaffte. Auch Platz zwei am Königssee oder Platz drei in Sigulda dürften kaum den hohen deutschen Eigenerwartungen entsprochen haben. Da in der Teamstaffel ebenso wie in den Sprintwettbewerben nur ein Lauf ausgetragen wird, kann die kleinste Nachlässigkeit den Sieg kosten. Daher ist es auch ziemlich schwer, für die WM-Sprints der Damen, Herren und Doppelsitzer eine sichere Prognose zu stellen.
In der speziellen Sprint-Gesamtwertung des Weltcups belegen bei den Damen die deutschen Rodlerinnen in der Reihenfolge Taubitz, Geisenberger und Eitberger die ersten drei Plätze. Bei den Männern führt Felix Loch das Sprint-Ranking vor den beiden Österreichern Dominik Fischnaller und Kevin Fischnaller an. Bei den Doppelsitzern haben die Österreicher Steu/Koller die meisten Sprint-Punkte gesammelt, vor den beiden italienischen Duos Rieder/Rastner und Rieder/Kainzwaldner. Wendl/Arlt folgen erst auf dem vierten Platz, Eggert/Benecken rangieren gar nur auf einem enttäuschenden zwölften Platz.