Die Hamburger Kunsthalle zeigt in ihrer aktuellen Ausstellung erstmals metaphysische Werke des italienischen Künstlers Giorgio de Chirico. Er gilt als einer der wichtigsten Vorläufer des Surrealismus.
Sonnendurchflutete menschenleere Plätze, auf denen die Zeit stillzustehen scheint, vielleicht in Turin oder in Florenz. Türme und Arkaden, die wie eine unwirkliche Kulisse aussehen, sowie rätselhafte Stillleben, durch die das scheinbar Alltägliche eine neue Bedeutung bekommt.
Das sind die Motive, die „Landschaften" des Künstlers Giorgio de Chirico, dem Begründer der Pittura metafisica, der metaphyischen Malerei. „Metaphysisch" – das setzt sich aus den griechischen Wörtern ‚metá‘ für jenseits und dahinter und ‚physis‘, was Natur bedeutet, zusammen.
Dieser „metaphysischen Malerei" ist nun erstmalig in Hamburg eine große Ausstellung gewidmet – mit den Werken, die als die bedeutendsten von Giorgio de Chirico gelten. Die zwischen 1909 und 1919 entstandenen ikonischen Bilder wirken heute in der Zeit der Corona-Pandemie besonders eindringlich und aktuell. Schon allein, weil menschenleere Straßen und Plätze inzwischen durch Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen zu unserem Alltag gehören.
Die Ausstellung zeigt 80 Werke aus über 50 Sammlungen – beispielsweise aus dem Museum of Modern Art in New York, dem Art Instiute of Chicago oder dem Moderna Museet in Stockholm sowie aus mehreren Privatsammlungen. Möglich wurde die hochkarätig bestückte Schau durch eine erstmalige Kooperation der Hamburger Kunsthalle mit den Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie. Dort war die Ausstellung bereits zu sehen und stieß auf enormes Interesse beim Publikum.
„Die Kunst, die de Chirico entwickelte, war so seltsam und hatte einen enormen Einfluss auf die ganze Moderne, von Picasso bis zur neuen Sachlichkeit und vor allen Dingen auf den Surrealismus." So fasst es Ausstellungskuratorin Annabelle Görgen-Lammers zusammen. Und Kunsthallen-Direktor Alexander Klar beschreibt den italienischen Künstler als Propheten, als Maler der leeren Plätze und der Alpträume in der Mitte der Gesellschaft. „Magisch, metaphysisch, jenseits der Natur, was es so nicht gegeben hat, aber was wir immer erkennen, das hat er in traumwandlerischer Kunst gemalt", sagt Klar.
Passend zur Kunst de Chiricos ist die Präsentation angelehnt an eine große Piazza mit sechs dazugehörigen Räumen, in denen die Werke zu sehen sind. „Wir hoffen, dass das Ganze auch noch live erlebbar sein wird", sagt Kunsthallen-Chef Alexander Klar. Denn die jetzt ausgestellten Leihgaben werden durch ausgewählte Werke aus den Sammlungsbeständen ergänzt. Da sind unter anderem Gemälde von Carlo Carrà, Giorgio Morandi, Alberto Magnelli, Alexander Archipenko, Pablo Picasso sowie Arnold Böcklin und Max Klinger zu entdecken. Vor allem die beiden deutschen Maler der Spätromantik haben de Chirico stark beeinflusst.
Vorerst nur zum Streamen: Vortrag auf der Vernissage
1888 wurde der Italiener in Griechenland geboren. In München studierte er die deutsche Spätromantik, es folgten Reisen nach Florenz, Turin und Mailand. Von 1911 bis 1915 lebte er in Paris, wo er der Avantgarde begegnete. In den Militärdienst des Ersten Weltkrieges eingezogen, erlitt er durch seine Kriegserlebnisse einen psychischen Zusammenbruch. In der italienischen Kleinstadt Ferrara in der Emilia-Romagna konnte er weitermalen. De Chirico entwickelte seine Kunst in unruhigen Zeiten, die durch den Ersten Weltkrieg und die Spanische Grippe geprägt waren. Er erkrankte selbst an dem Virus der damaligen Pandemie. Sein Freund, der französische Dichter und Schriftsteller Guillaume Apollinaire, der den Begriff des Surrealismus prägte, starb daran.
Einen tiefen Einfluss auf de Chirico hatte der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche. Dessen Ideen zur ewigen Wiederkehr des Gleichen, zur Stimmung, die de Chirico als „Atmosphäre im geistigen Sinne" beschreibt, ebenso wie die Unbeständigkeit aller Werte regten den Maler zu seinen Motiven und Kompositionen an. Doch auch seine Kindheit und Jugend in Griechenland, die griechische Mythologie sowie seine Aufenthalte in Italien inspirierten ihn. In seinen Bildern lässt er eine andere Welt des Scheins erahnen: Kulissenartige Objekte, Menschen wie Puppen, bodenlose Schatten sowie Uhren und Brunnen, die Zeit und Raum hinterfragen.
Angesichts der Lockdown-Verlängerung ist die eindrucksvolle Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle momentan nur digital erlebbar. So kann über die Webseite die live gestreamte Ausstellungseröffnung abgerufen werden, bei der Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers mit viel Begeisterung, Leidenschaft und Expertise dem Zuschauer die Kunst und die Welt de Chiricos näherbringt. Aber auch über die Entstehung und Konzeption der Ausstellung spricht sie. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Jahre. Eine fotografische Dokumentation der Räume, eine Bildergalerie zu ausgewählten Werken und ausführliche Texte, in denen die verschiedenen Ausstellungskapitel vorgestellt werden, sind ebenfalls über die Webseite zugänglich. Auch auf den Facebook-, Twitter- und Instagram-Kanälen werden verschiedene Werke aus der Ausstellung durch Fotos und Clips vorgestellt. In einer zusätzlichen App der Hamburger Kunsthalle steht unter anderem eine Audiotour mit 20 ausgewählten Meisterwerken gratis zum Download bereit. Außerdem bietet ein Veranstaltungsprogramm online Vorträge, Gespräche, Konzerte und Seminare, beispielsweise mit de Chirico-Spezialisten und renommierten Autoren zu unterschiedlichen Sichtweisen der Ausstellung und der Meisterwerke.
Flankierend dazu hat die Kunsthalle einen Fotoaufruf gestartet. Wer möchte, kann mit eigenen Fotos Teil der Ausstellung werden. Mit Ansichten leerer Straßen und Plätze, unbefahrener Flüsse oder menschenleerer Bahnhöfe, aufgenommen während der Corona-Pandemie.