Digitaler Distanzunterricht mit AHA-Effekt und Sprachlosigkeit
So sehen die also aus." Distanzunterricht im zweiten Jahr der Corona-Pandemie bringt meinem jüngsten Buben neue Erkenntnisse. Nicht nur dank des Lehrstoffs, aus dem Schüler fürs Leben lernen. Sondern auch über die „neuen" Lehrer und Klassenkameraden. Genau betrachtet kennen sich die Elf- und Zwölfjährigen, die für die zweite Fremdsprache in der sechsten Klasse neu zusammengemischt wurden, seit dem Spätsommer. Nur halt nicht so ganz.
Der Bereich des Kopfes, der gerne ein Lächeln ausstrahlt, war wechselseitig bislang nicht zu sehen, weil in ihrem bayerischen Gymnasium seit dem Schuljahresbeginn Maskenpflicht herrschte. Der Vorteil: Die Pädagogen bekamen es nicht mit, wenn die Kids genervt Grimassen schnitten oder gar gähnten. Mit der Sauerstoffzufuhr war es trotz gelegentlichen Stoßlüftens nicht weit her hinter den Tröpfchenfängern. Mobile Luftreiniger, die auch die Kohlendioxid-Konzentration senken könnten, wurden von der Stadt München als Sachaufwandsträger monatelang wegargumentiert, obwohl sie der Freistaat bezahlt und letztlich sogar beschafft hätte.
Anders als noch im ersten Lockdown, als gegen 9 Uhr gestartet wurde und die Schultage dafür nach hinten länger waren, werden seit Beginn des zweiten Schul-Lockdowns die Zügel angezogen. Zumindest im bayerischen Distanzunterricht. „Aufstehen, raus aus den Schlafanzügen, zeigt Euch Euren Mitschülern und Bildungsvermittlern", lautet die Ansage sinngemäß. Ohne Maske und mit dem Mut, sich der digitalen Meeting-Möglichkeiten, wie virtuellem Hand-Heben oder ins Mikrofon-Reden, zu bedienen.
Und dann kommt es zu Szenen, wie der nachfolgend beschriebenen, die fiktiv ist, aber durchaus Spuren des real existierenden Distanzunterrichts mit Webcams enthält: Die Deutschstunde beginnt. Wer gerade spricht, rückt in der Bildleiste der MS Teams-Sitzung der Schulklasse nach vorne. Ein Mädchen ruft: „He, das muss Frau Y sein, die Augen und die Stimme kenne ich!" MS Teams denkt sich: „Treffer, das ist Eure Lehrerin, die im Spätsommer neu an Eure Schule kam und Euch seither unterrichtet. Jetzt könnt Ihr sie leider gerade nicht mehr hören: Ein Spaßvogel hat sie stumm geschaltet."
Ein Versehen, natürlich. Die vielfältige Oberfläche der Konferenzplattform liefert tolle Möglichkeiten, die multimedial interessierte Schüler gerne ausprobieren. Vor allem, wenn die diensthabende Pädagogin sich nicht rechtzeitig Administratoren-Rechte hat einräumen lassen. So kann jeder die Stunde kreativ mitgestalten. Beispielsweise die erhobenen Hände von Mitschülern wieder nach unten drücken. Die Lehrerin wundert sich, warum sich keiner meldet. „Macht mit, die Pause ist vorbei", schreibt die gerade Sprachlose im Chat an der Randleiste. „Sofort!" Fünf Kids legen gleichzeitig los, schieben ihre Gesichter nach vorne: Jetzt ist Frau Y auch nicht mehr zu sehen.
In der Randspalte erscheinen die einschlägigen Paragrafen der Netiquette, die gemeinsam mit dem grafisch aufbereiteten Digitalkonzept der Schule übermittelt wurde. Benimmregeln, damit das etwas wird mit der Digitalisierung der Schulen. Sanktionen sind ihnen zufolge möglich. Das wirkt. Okay, Frau Y ist wieder zu hören. Und zu sehen. Zügig geht es weiter im Unterricht. Deutlich effizienter als im analogen Klassenzimmer.
Im Klassenchat verabreden sich die Kids für Gruppenarbeiten, Referatsvorbereitungen sowie Spiele und Tratsch-Runden später am Tag. Natürlich überwacht von ihren Erziehungsberechtigten, denen die Schulleitung die Aufsichtspflicht während des Distanzunterrichts auferlegt hat. Gleichzeitig sollen die Kinder ihre Selbstständigkeit weiter trainieren.
Aus dem Hintergrund ertönt eine mahnende Stimme: „Nein, Du schaltest die Frau Y nicht schon wieder stumm. Schau’ mal, wie traurig sie schaut." Zu spät. Die Mutter reagiert: „Du hast Hausarrest." Die Mitschüler wundern sich: „Warum lacht der Bub denn jetzt? Im Lockdown darf doch kein Mensch Spaß haben, hat die Frau Merkel gesagt." – „Ach ja, auch ohne Hausarrest dürfte der heute nicht zum Fußball. AHA!"