Während die Resistenzen gegenüber Antibiotika gestiegen sind, hatten sich fast alle großen Pharmakonzerne aus der Antibiotikaforschung zurückgezogen. Nun soll eine Milliarde investiert werden. Experten aber warnen, das reiche nicht.
Schätzungen zufolge sterben 33.000 Menschen jedes Jahr alleine in der EU an resistenten Erregern. Viele Antibiotika wirken nicht mehr. Oftmals helfen nur noch ganz wenige Antibiotika gegen bestimmte Bakterien. Die Vereinten Nationen haben Antibiotikaresistenzen als „größte und dringendste globale Gesundheitsgefahr" benannt. Sie warnen zudem, dass die Todeszahlen in die Höhe schnellen, falls nicht sofort gehandelt werde. Demnach könnten durch resistente Keime bis 2050 jedes Jahr zehn Millionen Menschen sterben, das wären mehr als heute an Krebs.
Trotzdem waren fast alle großen Pharmakonzerne aus der Antibiotikaforschung ausgestiegen. Grund dafür sollen wirtschaftliche Erwägungen sein. Mit Antibiotika lässt sich deutlich weniger Geld verdienen als beispielsweise mit Krebsmedikamenten oder Mitteln gegen chronische Erkrankungen. Denn Antibiotika werden in der Regel nur wenige Tage lang eingesetzt. Wer hingegen täglich Medikamente gegen chronische Krankheiten wie Krebs, Rheuma und Bluthochdruck einnimmt, sorgt für einen höheren Umsatz. Zudem sollten neue Mittel nur im Notfall verwendet werden, wenn alle herkömmlichen Antibiotika nicht mehr anschlagen. Sie sollen also als Reserve zurückgehalten werden, damit sie ihre Wirkung nicht so schnell verlieren. Ein weiteres Problem: Resistenzen entwickeln sich so schnell, dass einige Antibiotika nach jahrelanger Entwicklung teilweise schon nicht mehr wirken, wenn sie auf den Markt kommen.
Die Entwicklung eines neuen Antibiotikums kostet mehrere Hundert Millionen Euro. Bei erfolgreicher Zulassung des Mittels kommen die Ausgaben für Herstellung, Vertrieb und Vermarktung hinzu. Kleine Unternehmen, die keine zusätzlichen Einnahmen durch lukrative Arzneimittel aus anderen Bereichen haben, können diese Kosten allein nicht stemmen. Auch deshalb ist es aus Sicht vieler internationaler Experten fatal, wenn sich die großen Konzerne zurückziehen.
Nun soll ein neuer Zusammenschluss Abhilfe schaffen. 23 Pharmaunternehmen wollen insgesamt knapp eine Milliarde Euro bereitstellen, um die Entwicklung neuer Antibiotika voranzubringen. Die Idee: einen Fonds aufzulegen, der gezielt in kleine Firmen investiert, die zu möglichen Antibiotika forschen. Diese können sich mit ihren Wirkstoff-Kandidaten bewerben. Ein wissenschaftliches Gremium soll dann entscheiden, wie sinnvoll das Projekt ist. Ziel ist, bis 2030 zwei bis vier innovative Antibiotika zur Marktreife zu bringen. Dafür sollen die großen Unternehmen, die sich an dem Fonds beteiligen, die kleinen Firmen mit ihrer Expertise im Bereich Entwicklung, Zulassung und Vermarktung unterstützen.
Als „game changing" bezeichnet der Generaldirektor des Internationalen Pharmaverbandes (IFPMA) Thomas Cueni die Initiative gegenüber dem NDR: „Wir haben erkannt, dass wir als Industrie zeigen müssen, dass wir Geld in die Hand nehmen." Mitgearbeitet hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Schon seit 2018 hatte man dort gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank an einem Konzept für einen Investitionsfonds gearbeitet. Was fehlte, waren die Investoren. Doch Anfang dieses Jahres sei eine intensive Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie entstanden, das Ergebnis sei der neue Fonds. Das Besondere dabei: Das Geld komme von der Industrie und die öffentliche Seite, die WHO, berate inhaltlich.
Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, hob die Bedeutung des neuen Fonds hervor. Denn Resistenzen würden sich mit einer alarmierenden Geschwindigkeit ausbreiten, und die aktuell in der Entwicklung befindlichen Antibiotika seien nicht ausreichend. Ohne wirksame Antibiotika können kleine Wunden lebensbedrohlich werden, sind Operationen kaum mehr möglich. Auch Krebsbehandlungen würden extrem schwierig, weil die Patienten ein hohes Risiko tragen, an Infektionen durch Bakterien zu erkranken. Unterstützung kommt auch von der Bundesregierung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte bei der offiziellen Vorstellung der Initiative, dass der Kampf gegen resistente Keime und die Entwicklung neuer Antibiotika eine der dringlichsten Herausforderungen für die globale Gesundheit seien.
Der Pharmaindustrie und Thomas Cueni aber ist klar: Dieser Fonds wird nicht reichen. Stattdessen sehen sie die Politik in der Pflicht und fordern neue Reformen. Kosten und Nutzen der Mittel müssten anders bewertet werden, um Anreize für die Pharmafirmen zu schaffen, wieder in Antibiotikaforschung zu investieren. Die Mittel müssten sich also wieder mehr lohnen und mehr Geld in die Kassen der Pharmafirmen spülen. Erste Ideen und Ansätze dazu werden seit Längerem diskutiert. So gibt es etwa die Idee zu Bonuszahlungen für eine erfolgreiche Marktzulassung oder eine Art Lizenzgebühr für die Medikamente. So sollen Antibiotika nicht einzeln bezahlt werden, sondern die Hersteller eine Art Monats- oder Jahrespauschale bekommen. Großbritannien und Schweden haben bereits Pilotmodelle für andere Bezahlmodelle gestartet. Experten schätzen, dass auch finanziell deutlich mehr investiert werden müsste und veranschlagen einige Milliarden Euro pro Jahr dafür.
Im Bundesgesundheitsministerium begrüßt man die neue Initiative. Wissenschaft und Forschung fehlten häufig die finanziellen Mittel und das Know-how, um Produkte bis zu den abschließenden klinischen Prüfungen und auf den Markt zu bringen. Der Fonds setze genau da an. Das Ministerium hält auch eine bessere Erstattung von innovativen Antibiotika für notwendig. Dort verweist man auf eine neue Regelung, die Anfang dieses Jahres verabschiedet worden ist. Mit deren Hilfe sollen Hersteller für Reserveantibiotika höhere Preise verlangen können.
Auch Ursula Theuretzbacher, die als unabhängige Beraterin im Bereich der Antibiotikaforschung unter anderem für die WHO arbeitet, begrüßt die Initiative grundsätzlich. Die Forderungen der Pharmaindustrie nach einer besseren Vergütung hält sie für berechtigt. Die Frage sei jedoch, wie viel Geld die Firmen verdienen möchten. Oft sei dies unverhältnismäßig. Die Kosten, die die Unternehmen für die Entwicklung, Herstellung und den Vertrieb haben und auch die Profite seien intransparent und von der Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. „Die Industrie ist hauptsächlich ihren Aktionären verpflichtet und konzentriert sich auf Produkte mit den höchsten Profiten", sagte Theuretzbacher dem NDR. Die Beraterin will deshalb eine stärkere internationale Zusammenarbeit bei der Forschung und Entwicklung, auch mit unabhängigen Experten und weiteren Akteuren wie etwa staatlichen Stellen und Krankenversicherungen. Denn eine Garantie dafür, dass künftig neue Antibiotika zur Verfügung stünden, sei der Fonds nicht.
Unterdessen versuchen Wissenschaftler, Alternativen zu Antibiotika zu finden. Im Kampf gegen multiresistente Keime etwa setzen Ärzte aus den Ostblockstaaten schon länger auf die natürlichen Feinde der Bakterien: Bakteriophagen. Dabei handelt es sich um Viren, welche die Bakterien infizieren, sich in diesen vermehren und sie dann zum Platzen bringen. Jeder Phagentyp befällt dabei spezifische Bakterienstämme. Die Wirksamkeit der Therapie wurde bereits in kleineren Studien nachgewiesen. Nebenwirkungen wurden in den Behandlungen bisher nicht verzeichnet. Ein besonderer Vorteil der Phagentherapie ist die genetische Modifizierbarkeit der Phagen. Sie lassen sich individuell an die Infektion, also die Bakterienart anpassen, wodurch es auch zu einer geringeren bis gar keiner Beschädigung der eigenen Darmflora kommt, wie es bei normalen Antibiotika der Fall ist. Allerdings macht eine Phagentherapie erst dann Sinn, wenn der genaue Erreger identifiziert ist, was wiederum mit einem größeren Diagnose- und Kostenaufwand verbunden ist.
Pflanzliche Wirkstoffe können nicht in hohen Dosen intravenös verabreicht werden
Um Phagen zu gewinnen, isolieren Forscher sie zunächst. Denn diese tummeln sich überall dort, wo auch Bakterien sind, also etwa in der Umwelt, auf menschlichen Körpern oder in Abwässern. Sollen Phagen isoliert werden, filtern Forscher etwa das Wasser und vermehren sie dann. Um sie aber auch als Medikament einsetzen zu können, müssen sie sich in Studien beweisen. Weil es jede Menge multiresistente Bakterien gibt und jeder Phage nur gegen ein bestimmtes Bakterium wirkt, sind dafür viele teure und aufwendige Studien erforderlich. Während die Phagentherapie etwa in Georgien seit Jahrzehnten angewendet wird, setzt man sie in Deutschland nur in Ausnahmefällen ein. Etwa wenn alle anderen Maßnahmen versagt haben. Die Kosten tragen Erkrankte dabei selbst, die Ärzte müssen zudem das Risiko für nicht zugelassene Medikamente auf sich nehmen. Mit 673 Phagen hat das Leibniz-Institut in Braunschweig derzeit die größte Phagensammlung in Deutschland zu Forschungszwecken zusammengetragen.
Ein anderer Ansatz ist die sogenannte Antivirulenz-Therapie. Ziel dabei ist es, die Bakterien unschädlich zu machen, indem sie „entwaffnet" werden. Die Keime werden nicht wie bei einem Antibiotikum abgetötet, sondern es werden nur diejenigen Eigenschaften der Erreger ausgeschaltet, die zu einer Infektion führen. Dazu werden etwa Haftmoleküle oder die Kommunikationsschnittstellen der Bakterien blockiert. In der Folge leben die Erreger zwar weiter, können aber keinen Schaden mehr anrichten. Der große Vorteil dabei ist, dass die Keime keine Resistenzen bilden, weil kein Überlebenskampf stattfindet. Außerdem sollen zum Ausschalten der Erreger pflanzliche Mittel, Zuckerlösungen und Cranberry-Extrakte ausreichen. Die Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums in Braunschweig, die an dieser Therapie seit Jahren forschen, rechnen innerhalb der nächsten zehn Jahre mit einer breiten Anwendung der alternativen Antibiotika-Therapie.
Auch Pflanzen rücken in den Fokus, wenn nach Alternativen für Antibiotika gesucht wird. Denn auch sie müssen sich mit einer Vielzahl von Abwehrstoffen gegen Fressfeinde zur Wehr setzen. Forscher versuchen sich diese Abwehrstoffe zunutze zu machen. Besonders zwei Vorteile heben sie dabei hervor: Pflanzliche Antibiotika haben kaum Nebenwirkungen und greifen die Bakterien gleich an mehreren Stellen an, weshalb eine Resistenzbildung schwer möglich wird. Insbesondere von den Inhaltsstoffen der Kapuzinerkresse erhoffen sich Experten, ein pflanzliches Antibiotikum entwickeln zu können. Grund dafür sind die darin enthaltenen Senföle, die nicht nur antibiotisch wirken, sondern auch die sogenannten Biofilme der Bakterien hemmen. Das sind Abwehrmechanismen der Keime, die sie vor herkömmlichen chemischen Antibiotika schützen. Aber die pflanzlichen Wirkstoffe haben auch Nachteile. So können sie etwa wegen möglicher allergischer Reaktionen nicht in hohen Dosen intravenös verabreicht werden und können auch bei schwersten Infektionen nicht zum Einsatz kommen, weil die pflanzlichen Inhaltsstoffe nicht in der dafür nötigen Dosis verabreicht werden können. Sie helfen nur bei leichteren Atemwegserkrankungen und Harnwegsinfekten. Die Suche nach neuen Antibiotika und wirksamen Alternativen wird die Forscher also noch eine ganze Zeit lang beschäftigen.