In Deutschland gilt die Selbsthilfe als vierte Säule des Gesundheitssystems – neben ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung. Die Corona-Pandemie stellt auch die Selbsthilfegruppen vor große Herausforderungen.
Ein lieber Mensch stirbt, der Partner trennt sich, eine Krankheit führt zum Jobverlust. Die Gründe, warum Menschen in Krisen stürzen, sind vielfältig. Nicht jeder hat die Kraft, die Situation selbstständig zu meistern. Einige ziehen sich zurück, andere reagieren zunehmend gereizt. In Selbsthilfegruppen helfen sich Betroffene gegenseitig, wieder auf die Beine zu kommen. Das Angebotsspektrum reicht von A wie Adipositas bis Z wie Zwangserkrankungen. Es gibt Selbsthilfegruppen für Menschen mit Essstörungen, Depressionen, Nahtoderfahrungen, Gelenkfehlstellungen und Kleinwuchs. Wer Adressen von Gruppen oder Ansprechpartnern sucht, wird in der umfangreichen Datenbank der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung der Selbsthilfe (Nakos) fündig. Die Organisation besteht seit 1984 und hat ihren Sitz in Berlin. Schätzungen gehen davon aus, dass es in Deutschland zwischen 70.000 und 100.000 Selbsthilfegruppen mit etwa 3,5 Millionen Engagierten gibt. Nicht nur Menschen mit körperlichen Behinderungen und chronischen oder psychischen Krankheiten schließen sich zusammen. Auch Angehörige – etwa von Krebspatienten, Drogenabhängigen oder Pflegebedürftigen – treffen sich regelmäßig. Soziale Problemen werden ebenfalls in Gruppen diskutiert: Alleinerziehende oder Menschen mit Armutsrisiko tauschen ihre Erfahrungen aus.
Mittlerweile haben sich in Deutschland auch die ersten Corona-Selbsthilfegruppen gebildet. Sie wurden ins Leben gerufen von an Covid-19-Erkrankten, die lange nach der Infektion noch Beschwerden haben, aber auch von Menschen, die durch die Pandemie mit sozialen und finanziellen Problemen konfrontiert werden. „Gemeinschaftliche Selbsthilfe bedeutet, die eigenen Probleme und deren Lösung selbst in die Hand zu nehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten gemeinsam mit anderen Menschen aktiv zu werden", erklärt die Nakos auf ihrer Homepage. Mit Blick auf den Anfang November 2020 gestarteten Teil-Lockdown plädiert die Selbsthilfe-Fachstelle dafür, Gruppentreffen nicht generell zu verbieten. Selbsthilfegruppen seien systemrelevant, die Treffen für viele Menschen lebensnotwendig. „Wenn sie nicht stattfinden, nehmen psychische Beschwerden zu, Suchterkrankten drohen Rückfälle, Gruppenmitglieder sind von Einsamkeit und sozialer Isolation betroffen", schreibt die Organisation in einer Pressemitteilung.
Angehörige von Betroffenen treffen sich auch regelmäßig
Die Selbsthilfe hat in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, sie gilt mittlerweile als vierte Säule des Gesundheitssystems – neben ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung. Das Anfang 2004 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung hat dafür gesorgt, dass Selbsthilfeorganisationen über ihre Dachverbände in wichtigen Fragen der Gesundheitsversorgung ein Mitspracherecht haben. Laut Sozialgesetzbuch (SGB) sind die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, Selbsthilfegruppen und -organisationen finanziell zu unterstützen.
„Es gibt Pauschalförderungen und Projektförderungen", erläutert Angela Staub, die Vorsitzende der Landesvereinigung Selbsthilfe. Der Verein ist Träger der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Saarland (KISS). 2021 stellen die Krankenkassen im Saarland 640.000 Euro für die gesundheitsbezogene Selbsthilfe zur Verfügung, das sind rund 90.000 mehr als im Vorjahr. Die KISS hilft den Gruppen bei der Beantragung der Fördermittel, sie begleitet Neugründungen und stellt Räumlichkeiten zur Verfügung. Bei den Treffen hören die Gruppenmitglieder dem Betroffenen verständnisvoll zu – im Gegensatz zu so manch gestresstem Arzt oder ungeduldigem Familienmitglied. Im geschützten Raum erhält der Hilfesuchende wertvolle Informationen, etwa zu Nebenwirkungen von Medikamenten oder neuen Behandlungsmethoden. Angela Staub kennt aber auch die Grenzen der Selbsthilfegruppe: „Sie ersetzt keinen Arztbesuch und auch keine Psychotherapie."
Ihre Kollegin Annette Pauli koordiniert die Teilhabeberatung der Landesvereinigung Selbsthilfe, sie ist Rollstuhlfahrerin. „Die eigene Betroffenheit ist manchmal Türöffner", erläutert sie. Gleichzeitig betont Pauli, dass eine professionelle Beratung Abstand benötigt. „Der Ratsuchende steht im Mittelpunkt. Um meine Situation geht es nicht", versichert die Expertin. Ziel sei es, den Betroffenen zu einem Experten in der eigenen Sache zu machen und ihm die Chance zu ermöglichen, selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dazu gehört zum Beispiel auch die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen. Im August 2020 beschloss der saarländische Landtag ein Gesetz zur Schaffung eines inklusiven Wahlrechts. So sind nun auch behinderte und psychisch kranke Menschen, die vollständig auf Betreuung angewiesen sind, nicht mehr vom Urnengang ausgeschlossen.
Die Corona-Pandemie hat auch die Selbsthilfe vor neue Herausforderungen gestellt. Um in Kontakt zu bleiben, treffen sich immer mehr Gruppen online. So macht die saarländische Kontaktstelle inzwischen moderierte Onlineangebote zu Essstörungen, Fibromyalgie oder Depressionen. Interessierte können kostenlos und von zu Hause aus per Video- oder Audio-Chat teilnehmen. Die Online-Treffen der Selbsthilfegruppen eröffnen neue Möglichkeiten, die Teilnehmer sind nicht mehr an einen Ort gebunden. Wer in seiner Region kein passendes Angebot findet, schaut sich einfach woanders um. „An die Tatsache, dass man nicht physisch zusammensitzt, gewöhnt man sich schnell", sagt Angela Staub. Für Einzelberatungen werden Videosprechstunden angeboten. Der Nachteil der Digitalisierung: Nicht jeder kann mitmachen. Neben einem Smartphone oder einem Computer und einer leistungsfähigen Internetverbindung werden EDV-Grundkenntnisse vorausgesetzt. Gerade ältere Menschen fühlen sich manchmal überfordert. Die sozialen Medien bieten die Chance, verstärkt die Jugend anzusprechen. Die Junge Selbsthilfe Saar ist auf Facebook und Instagram präsent. „Let’s talk about Selbsthilfegruppen", lautet das Motto. Nicht nur mit einem bunten Flyer wird geworben, die Kontaktadressen stehen auch auf einem schmucken Bierdeckel.