Die Berlinale musste in ihrer 71. Ausgabe lieb gewordene Gewohnheiten gänzlich über Bord werfen. Wegen Corona fand vergangene Woche ein komplett digitales „Industry Event" statt.
Forum-Autorin Regina Friedrich hat sich auf die digitale Variante eingelassen – ein Festival-Tagebuch.
22. Februar. Die Filmliste wird gemailt. Wenn ich alle Filmlängen addiere, komme ich auf rund 187 Stunden Weltkino. Auf den ersten Blick scheint eine Auswahl gar nicht so schwer, aber es sind auch einige längere Produktionen dabei. Eine bringt es gar auf 331 Minuten, die ägyptische Doku „Seven Years Around the Nile Delta" von Sharief Zohairy.
1. März. Es geht los. Ich mache es mir auf der Couch bequem mit einer Schale Gummibärchen und einem Pott Kaffee. „Ich bin dein Mensch" von Maria Schrader ist einer von vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen, plus zwei Koproduktionen mit deutscher Beteiligung. Er wirft eine für künftige Generationen wichtige Frage auf: Können wir einen „Menschen", den wir nach unseren Vorstellungen „geschaffen" haben, der uns fast besser kennt als wir selbst, wirklich lieben? Die Protagonistin im Film hat an diesem Experiment teilgenommen und für sich eine Entscheidung getroffen. Ich überlege noch.
Eine wesentlich düsterere Zukunftsvision vermittelt „Tides" von Tim Fehlbaum. Nach einer globalen Katastrophe steht die Erde unter Wasser, ein Kampf ums Überleben steht an. Anne Zohra Berrached verfolgt in „Die Welt wird eine andere sein" ein junges Paar, dessen Zweisamkeit abrupt am 11. September 2001 endet.
Von beklemmend bis erfrischend skurril
Ich brauche jetzt Bewegung und gehe staubsaugen. Ob man im Kinosessel nicht doch bequemer sitzt als hier zu Hause auf der Couch? Nach einem Kaffee geht’s weiter mit „Brother’s Keeper" von Ferit Karahan. Dem harten Drill in einem Jungs-Internat in Anatolien setzen die Kinder Mitgefühl und Freundschaft entgegen. Ein Film, der aufwühlt. Da kommt „Language Lessons" von Natalie Morales gerade recht. Amüsiert und auch berührt schaue ich zu, wie Cariño Adam per Zoom Spanisch-Lektionen gibt und die beiden dabei eine besondere Beziehung aufbauen. Ein schöner Abschluss für diesen ersten Berlinale-Tag.
2. März. Das wird ein langer Tag, sechs Filme stehen auf meiner Liste. Den Anfang macht „Tina" von Dan Lindsay. Mitreißend, nicht nur für Tina-Turner-Fans. In starkem Kontrast dazu steht „Night Raiders" von Danis Goulet. Niska vom indigenen Volk der Cree muss ihre Tochter in einer postapokalyptischen Zukunft retten, in der Kinder zu Kampfmaschinen ausgebildet werden. Der Magen knurrt, es ist Zeit für eine Pizza. Die junge Souad in dem gleichnamigen Film von Ayten Amin will veralteten Rollenmustern entkommen, scheitert aber an der ägyptischen Realität. Ein interessanter Einblick, bei dem deutlich wird, wie weit viele Gesellschaften noch von einem Ideal der Gleichheit und Gerechtigkeit entfernt sind. Darüber macht sich der junge, frisch verliebte Labidi in Louda Ben Salah-Cazanas „Le monde après nous/The World after us" keine Gedanken. Er braucht einen Job und Ideen für seinen ersten Roman. Erfrischend ist es, dabei zuzusehen.
Schon wieder dunkel draußen, es ist Abend geworden, aber – einer geht noch. „Mission Ulja Funk" von Barbara Kronenberg aus der Sektion Generation hört sich schon mal schräg an. Die zwölfjährige Ulja ist begeisterte Hobbyastronomin und will den Einschlag des von ihr entdeckten Asteroiden in Weißrussland beobachten. Im Schlepptau hat sie dabei ihre Familie samt bigotter Oma und den Kirchenchor, allesamt auf liebenswürdige Art verschroben. Ein wunderbarer Film für die ganze Familie.
3. März. Gut gelaunt starte ich in den dritten Berlinale-Tag. In „Wer wir waren" von Marc Bauder machen sich Menschen Gedanken über den Zustand unserer Welt und entwickeln Ideen, damit die nächsten Generationen nicht die letzten sind. Samaher Alqadi hat ihre Kamera immer dabei, und so filmte sie nicht nur im Januar 2013 auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo es zu vielen sexuellen Übergriffen kam, sondern auch die Wut der Frauen danach. Das Kontrastprogramm dazu ist der französische Wettbewerbsbeitrag „Petite maman" von Céline Sciamma, die mit ihrer Kamerafrau Claire Mathon in poetischen Bildern die kleine Nelly die Kindheit ihrer Mutter erleben lässt.
Die Sonne scheint ins Zimmer. Da sich der Kühlschrank langsam leert, entscheide ich mich für einen Spaziergang zum Supermarkt. Tut gut, ein paar Schritte zu laufen, bei den letzten Berlinalen bin ich oft von Kino zu Kino gerannt. Das hielt fit!
Zwei Filme stehen heute Abend noch an, beide haben mit Bäumen zu tun. Luiz Bolognesi zeigt in „A Última Floresta/The last Forest" die Lebenswelten der Yanomami, die in den Regenwäldern des Amazonas gegen die Vernichtung des Waldes und somit ihrer Kultur ankämpfen. In „Taming the Garden" von Salomé Jashi sehe ich fasziniert zu, wie drei große alte Bäume akkurat ausgegraben und gut verpackt über das Meer schippern, um im Park eines reichen Bäumesammlers wieder eingepflanzt zu werden.
4. März. Heute ist für mich nur ein halber Berlinale-Tag, das Filmegucken geht erst am späten Nachmittag wieder los. Bei „Théo et les métamorphoses/Theo and the Metamorphosis" von Damien Odoul wandert ein junger Mann mit Downsyndrom durch surreale Traumwelten. Hochaktuell dagegen „Je suis Karl" von Christian Schwochow. Der eloquente Karl organisiert Treffen für junge Leute, die sich für ein gemeinsames neues Europa einsetzen. Hinter der schönen Fassade verbirgt sich ein eiskalter Populist, der über Leichen geht, um seine Pläne umzusetzen.
Außerdem gibt es heute die ersten Preise. Der für den besten Kurzfilm geht an „Nanu Tudor/My Uncle Tudor". Lange Einstellungen. Ich will schon vorspulen, als eine Offstimme fragt: „Erinnerst Du dich, Onkel, was du mit mir hier gemacht hast, als ich neun Jahre war?" Die Antworten sind nur schwer zu ertragen.
5. März. Der letzte Tag. Vor mir liegt ein Filmmarathon von drei Stunden mit „Herr Bachmann und seine Klasse". Maria Speth hat nur im O-Ton gedreht, in ruhigen Bildern, und doch wird es nicht eine Minute langweilig. Die anderen Filme hebe ich mir für den Nachmittag auf, jetzt werden erst mal die Preise verkündet.
Der Goldene Bär für den besten Film geht an das rumänische Drama „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc". Regisseur Radu Jude erzählt darin, wie das Sex-Video einer Lehrerin im Internet auftaucht und sie sich vor der Schule dafür verantworten muss. Auch zwei deutsche Filme werden ausgezeichnet: „Herr Bachmann und seine Klasse" von Maria Speth erhält den Silbernen Bär Preis der Jury, und beste Hauptdarstellerin wird Maren Eggert für ihre Rolle im Film „Ich bin dein Mensch".
Und mein Berlinale-Fazit? Ich habe das Gefühl, wesentlich mehr Filme geschafft zu haben als sonst, denn man verbringt ja auch viel Zeit in Pressekonferenzen oder beim Anstehen. Aber ich habe meine Kollegen vermisst, den Austausch über Tops und Flops und den spannenden Moment, wenn im Kinosaal das Licht ausgeht und die Festivalfanfare ertönt.