Den Zeitpunkt für den richtigen Absprung bei der Fußball-Nationalmannschaft hat Bundestrainer Joachim Löw wohl verpasst. Seine jetzige Rückzugs-Ankündigung für den Sommer ist clever.
Es gibt ja nach acht Meisterschaften des FC Bayern München den geflügelten Satz, nach dem Grundschüler noch nie einen anderen Deutschen Meister erlebt haben. Setzt man voraus, dass sich Kinder bestenfalls mit vier, fünf Jahren beginnen, wirklich für Fußball interessieren zu können, ist es keine gewagte These zu sagen: Es gibt Volljährige, die bewusst noch keinen anderen Bundestrainer erlebt haben als Joachim „Jogi" Löw. So gesehen ist es ein riesiger Einschnitt, das Ende einer Ära, wenn Löw im Sommer nach der EM – so sie denn stattfindet – trotz eines bis 2022 laufenden Vertrages aufhören wird.
Die Frage, ob diese Ära länger ist als die der sich im Herbst ebenfalls zurückziehenden Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt sich übrigens unterschiedlich beantworten. Eigentlich ist sie kürzer, denn Merkel ist seit 2005 im Amt und Löw seit 2006 Bundestrainer. Aber er wurde schon 2004 als Assistent von Jürgen Klinsmann zu einem Gesicht der Nationalmannschaft. FORUM beantwortet die wichtigsten Fragen zum Löw-Rückzug:
Entwicklung lässt zu wünschen übrig
Warum hört Löw auf? Es ist eine Mischung aus vielem. Einerseits hat er das Höchste, den WM-Titel 2014, längst erreicht. Andererseits drückte die Last des peinlichen Vorrunden-Aus bei der WM 2018. Die Entwicklung danach ließ ebenfalls zu wünschen übrig, die Kritik wurde zum ständigen Wegbegleiter. Nach dem 0:6 im November in Spanien wurde der Druck groß. Auch der Rückhalt im Verband war geschwunden, Präsident Fritz Keller soll Löw schon im Herbst gefragt haben, ob er sich einen Rücktritt vorstellen könne. Dass er nun direkt zum Rücktritt gezwungen worden sei, werde beim DFB aber selbst unter der Hand dementiert, schreibt die „Süddeutsche Zeitung". Löws Schritt sei „ein selbst gewähltes Schicksal und allein seine Entscheidung". Unter dem Strich lässt sich Löws Motivation so zusammenfassen: Ich habe (fast) alles erreicht, und diesen Spießrutenlauf muss ich mir nicht antun.
Warum gerade jetzt? Über einen Bundestrainer wird immer viel diskutiert. Die Frage, wann Löw den besten Moment zum Absprung verpasst hat, ist deshalb unter Fans und Experten eine heiß diskutierte. Auf dem Höhepunkt 2014? Nach dem Scheitern 2018? Fakt ist: Löw war all bei seinem Handeln immer wichtig, selbstbestimmt zu handeln. Der Entschluss zum Rückzug muss nach dem Spanien-Debakel gereift sein, ein sofortiges Hinwerfen hätte aber wie eine Kapitulation ausgesehen. Warten, bis er nach der EM rausgeworfen wird, wollte Löw aber auch nicht. Deshalb hat er sich zu einem angekündigten Rückzug zu einem absehbaren Zeitpunkt entschlossen, verkündet schriftlich an irgendeinem Dienstag im März. Mit den Worten: „Ich gehe diesen Schritt ganz bewusst, voller Stolz und mit riesiger Dankbarkeit, gleichzeitig aber weiterhin mit einer ungebrochen großen Motivation, was das bevorstehende EM-Turnier angeht." Der frühere Nationalmannschafts-Kapitän Bastian Schweinsteiger erklärte in der ARD, Löw habe den Zeitpunkt „sehr klug gewählt". Es gebe nun „keine unnötigen Diskussionen während des Turniers. Und er möchte vielleicht auch Energien freisetzen bei den Spielern, um sein großes Ziel bei der Europameisterschaft zu verwirklichen." Der EM-Titel fehlt Löw nach einem verlorenen Endspiel 2008 und zwei Halbfinal-Teilnahmen 2012 und 2016 nämlich noch.
„Zeitpunkt sehr klug gewählt"
Wie fallen die Reaktionen aus? Unter den Fans, Experten und Medien gibt es kaum jemanden, der Löws Schritt als falsch bezeichnet. Die meisten betrachten ihn als richtig und überfällig. Allerdings wurden sofort auch Löws Verdienste und Erfolg gewürdigt. Das Fachmagazin „Kicker" schrieb: „Löws Entscheidung ist die richtige. Sie hilft allen Beteiligten, der Nationalmannschaft, dem Verband sowie ihm selbst." Die „Bild" kommentierte, Löw habe „die richtigen Konsequenzen gezogen. Das verdient Respekt!" Die „FAZ" schrieb: „Letztlich macht Löw den Weg frei, auch wenn er den besten Zeitpunkt dafür längst verpasst hatte. Dass sein Vertrag schon vor der WM 2018 überraschend um weitere vier Jahre verlängert worden war, hatte sich als großes Problem erwiesen. Frischer Wind, neue Ideen und eine dringend nötige andere Ansprache fehlten seit 2018 zwangsläufig, fehlten aber im Grunde schon seit dem WM-Sieg 2014."
Wer profitiert vom Löw-Rücktritt? Ziemlich sicher scheint nun die lange diskutierte Rückkehr von Thomas Müller. Denn Löw geht es nun weniger um den Aufbau als um ein gutes Ergebnis bei der EM. Vielleicht rückt auch Mats Hummels wieder in den Kader, Jérôme Boateng wohl eher nicht. Ansonsten darf sich natürlich die gesamte zweite Reihe neue Hoffnungen machen.
Für wen ist er ein Problem? Löws Nibelungentreue zu vielen Spielern wurde von diesen sehr geschätzt, öffentlich aber oft kritisch beäugt. Ob Spieler wie Jonathan Tah, Antonio Rüdiger, Julian Brandt, Nico Schulz oder Julian Draxler unter einem Nachfolger nominiert werden, wird spannend zu verfolgen sein. Bitter ist die Nachricht für Talent Jamal Musiala. Der 18-Jährige hatte seine schwierige Zukunfts-Entscheidung kürzlich für die deutsche und gegen die englische Nationalmannschaft getroffen. Nicht zuletzt, weil Löw ihm in einem persönlichen Gespräch einen „sehr klaren Weg aufgezeigt" hatte. Musiala ist aber auch stark genug, sich unter einem Nachfolger durchzusetzen.
Was sagt der deutsche Fußball? Auch hier: Niemand sagt öffentlich, dass Löw noch hätte bleiben sollen. Dennoch würdigen alle seine Verdiente. Bayern Münchens Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge erklärte, Löw habe „eine enorm erfolgreiche Ära des deutschen Fußballs geprägt". Der DFB sei ihm „zu großem Dank verpflichtet", Löw verdiene „einen würdigen Abschluss". Für Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke hat Löw „als Bundestrainer Großartiges für den deutschen Fußball geleistet". Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann sprach von einer „traurigen Nachricht" und lobte: „Er hat einen großen Impact auf den deutschen Fußball, hat eine Epoche geprägt mit Titeln und einer Entwicklung." In den Augen von Liverpool-Coach Jürgen Klopp hat Löw „Unglaubliches geleistet", für den ehemaligen Bundestrainer Berti Vogts ist er „einer der größten Bundestrainer".
Zahl der Kandidaten ist begrenzt
Wer wird Nachfolger? Es gibt zwei Wunschlösungen: Klopp und Hansi Flick. Klopp hat eigentlich einen Vertrag bis 2024 in Liverpool, schlitterte dort aber zuletzt – manche sagen rechtzeitig – in eine Krise. Er sagte bei Sky nun aber deutlich: „Selbst wenn Liverpool mich hier rausschmeißt: Wenn meine Zeit hier rum ist, werde ich erst mal ein Jahr Pause machen. So funktioniert das einfach nicht. Und dementsprechend: Nein." Man munkelt, Klopp reize es grundsätzlich, die Nationalmannschaft bei der Heim-EM 2024 zu betreuen. Hierzu sagt er: „Wir werden einen neuen Bundestrainer haben. Und wenn der erfolgreich ist, wird weder 2024 noch 2026 irgendein Hahn nach mir krähen."
Flicks Vertrag beim FC Bayern läuft bis 2023. Als langjähriger Assistent Löws bis zur WM 2014 stünde er sowohl für Kontinuität, sieben Jahre nach dem Abgang aber auch für Unabhängigkeit. Reizen würde ihn der Job wohl schon und das Verhältnis zu Bayerns Sportvorstand Hasan Salihamidzic soll angespannt sein. Aber ob das reicht?
Und sonst: Ralf Rangnick wäre frei und wird von vielen Experten gefordert. Er stünde sicher für eine neue Entwicklung, vielleicht gar eine Revolution. Er würde aber auch viel Macht fordern und viele Änderungen, daher schrecken wohl viele im DFB vor ihm zurück. Von den beiden internen Lösungen hätte U21-Coach Stefan Kuntz sicher bessere Chancen als Löw-Assistent Marcus Sorg. Sorg hat im Verband Unterstützer wie DFB-Direktor Oliver Bierhoff. Er stünde aber nicht für einen Neuanfang, seine Karriere als Bundesliga-Trainer in Freiburg war nach einem halben Jahr beendet. Kuntz wäre sicher der Favorit gewesen als Übergangslösung, mit der langen Vorlaufzeit ist er nun wohl noch eine Schatten-Lösung. Ex-Nationalspieler Mehmet Scholl brachte den 90er-WM-Kapitän Lothar Matthäus ins Spiel, doch der hat direkt abgewunken. Auch erfahrene Bundesliga-Trainer wie Armin Veh oder Dieter Hecking, die hier und da mal erwähnt wurden, erscheinen möglich, aber unwahrscheinlich. Nagelsmann fühlt sich mit 33 noch zu jung: „Die nächsten Jahre will ich auf jeden Fall Vereinstrainer bleiben."
Was macht Löw künftig? Das ist schwer zu sagen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere galt er mal als Kandidat beim FC Bayern oder Real Madrid. Doch jetzt ist Löw 61, und er hat seit 17 Jahren keinen Verein trainiert. Dass die Bayern ihn holen, ist selbst bei einem Flick-Wechsel zum DFB schwer vorstellbar. Da Löw sicher nur noch besondere Aufgaben übernehmen würde und fraglich ist, ob ihm diese noch angeboten werden, erscheint auch ein kompletter Rücktritt denkbar.