Der VfL Bochum ist auf bestem Weg, nach langer Zeit wieder in die Bundesliga zurückzukehren. Seit nunmehr elf Jahren in der Zweiten Liga und einigen Höhen und Tiefen wäre das eine unerwartete Sensation.
An der Castroper Straße, genauer gesagt beim VfL Bochum, atmen einige Fans derzeit seelenruhig durch. Sportlich läuft es so gut wie schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr, innerhalb des Vereins scheinen Ruhe und Gelassenheit zu dominieren. Dafür, dass es beim VfL derzeit mehr als rundläuft, ist ein Mann verantwortlich, den viele für einen Ur-Bochumer halten, obwohl er gar keiner ist: Cheftrainer Thomas Reis. Der Vertrag des gebürtigen Wertheimers wurde vor Kurzem bis 2023 verlängert. Die Erfolgsgeschichte, die der 47-Jährige in Bochum bereits geschrieben hat, kann fortgesetzt werden – möglicherweise sogar in der Ersten Liga.
Obwohl er nicht gebürtig aus dem Ruhrgebiet kommt, so spricht er aber wie einer, der noch nie woanders war: „Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich bei dem Verein, bei dem ich als Profi meine schönste Zeit erlebt habe und der mich nach meiner aktiven Zeit in viele Bereiche hat hineinschnuppern lassen, sehr, sehr gern arbeite", sagte Reis zu seiner Vertragsverlängerung, die für ihn der logische nächste Schritt in seiner Laufbahn ist. Im Jahre 1995 schlug Reis zum ersten Mal seine Zelte in Bochum auf.
Rückschläge sind einkalkuliert
Den Ruf der „Unabsteigbaren", den sie von 1971 bis 1993 selbstbewusst ihr Eigen nannten, hatten sie da schon verloren. Eine graue Maus, die ab und an die „dicken Katzen" der Liga ärgerte. Nach dem ersten Abstieg folgte der direkte Wiederaufstieg – und dann auch wieder der direkte Abstieg.
Mit Reis, der in der Defensive des VfL zu Hause war und auch eher mit dem Adjektiv „knochentrocken" beschrieben wurde, ging es wieder nach oben. Im zweiten Jahr mit Reis als Defensiv-Allrounder kämpften sich die Bochumer sogar bis auf den fünften Tabellenplatz vor und zogen in den Uefa-Pokal ein. Es war nicht nur die schönste Zeit des VfL Bochum, sondern auch die schönste des Spielers Reis. In den folgenden Jahren nahm er alle Höhen und Tiefen mit, genauer gesagt zwei Auf- und Abstiege, ehe er den Verein dann 2003 verließ.
Doch so ganz konnte er sich von dem Zauber des VfL nicht mehr freimachen. Nach seiner Karriere als Spieler arbeitete er als Scout in der Nachwuchsabteilung der Bochumer, dann als Jugendtrainer und als Co-Trainer in der Profimannschaft. Wäre es nur nach ihm gegangen, wäre er schon viel früher bereit gewesen, als Cheftrainer bei „seinem" VfL zu arbeiten – doch es sollte bis ins Jahr 2019 dauern. Irgendwann zog er dann doch weiter, um in der Fremde sein Glück zu suchen.
Nachdem das Experiment mit Ismael Atalan krachend scheiterte, waren es danach eine Reihe von Interimslösungen und schlussendlich dann Robin Dutt, die den Verein über längere Zeit nicht stabilisieren konnten. Reis, der zu diesem Zeitpunkt bei der U19 des VfL Wolfsburg arbeitete, wurde zurückgeholt. Seit seinem Amtsantritt hat sich einiges geändert, vor allem aber gab er der Mannschaft wieder eine erkennbare Struktur. Nach dem coronabedingten Liga-Shutdown im vergangenen Jahr ging es dann steil nach oben. „Wir haben nach dem Re-Start die meisten Punkte aller Zweitligisten eingefahren und die Jahrestabelle 2020 als punktbestes Team abgeschlossen", sagt Sebastian Schindzielorz, der Geschäftsführer Sport. Der Aufstieg, der sicherlich in dieser Kürze nicht angepeilt war, ist nun mehr als realistisch. Auch wenn es Rückschläge gibt. Das erste Topspiel gegen den Hamburger SV ging verloren – das lag vor allem an der unnötigen Roten Karte für Danny Blum. Und auch wenn der VfL weit über dem Erwarteten agiert, war Reis sauer. „Ich habe erstmals direkt nach dem Spiel eine Kabinenansprache gehalten und der Mannschaft gesagt, welche Chance sie liegen gelassen hat." Doch wie hat Reis den VfL überhaupt zum Aufstiegskandidaten gemacht? Er arbeitet weitestgehend mit Spielern, die zuvor aufgrund großer Formschwankungen eher nicht zum Stammpersonal gehörten und seinen Vorgängern große Rätsel aufgaben. „An der individuellen Qualität hat es dieser Mannschaft meiner Meinung nach nie gehapert", so Reis. Es fehlte seiner Meinung nach eher an „Geschlossenheit und Konsequenz". Also passte er die Spielweise an die individuellen Qualitäten an und sorgte für mehr Aggressivität und Konstanz auf dem Platz.
„Das Team hat Spirit"
Die Bochumer zeichnen sich in den letzten Monaten vor allem durch Mut, Tempo und taktische Disziplin aus. Tugenden, die schon lange nicht mehr zum Repertoire des Revierclubs gehörten. Hinzu kommt, dass sie sowohl im Ballbesitz, als auch in den Umschaltmomenten starke Phasen haben können. Sollte es spielerisch dann mal ein wenig haken, machen die Bochumer das oft mit ihrer unangenehmen Spielweise und Einsatz wett. „Das Team hat Spirit", erklärt Reis. Mannschaften, die am Ende aufsteigen wollen, brauchen aber nicht nur Spirit, sondern auch Spieler mit dem gewissen Etwas. Beim VfL nimmt diese Rolle derzeit vor allem Robert Zulj ein. Der 29 Jahre alte offensive Mittelfeldspieler ist seit Januar 2020 in Bochum. Auch, weil er sich bei 1899 Hoffenheim nicht richtig durchsetzen konnte. Unter Reis scheint Zulj seine Qualitäten aber voll ausschöpfen zu können. Technisch versiert, klare Spielauffassung und Zug zum Tor sind die Attribute, die den ehemaligen österreichischen Nationalspieler auszeichnen. „Ich liebe die Wochen, die nach der Länderspielpause anstehen. Das sind die Duelle, die den Ausschlag geben werden, wo wir am Ende stehen. Und ich will natürlich in genau diesen Spielen meine Qualitäten zeigen, der Mannschaft helfen", sagt Zulj.
In eine ähnliche Kategorie gehört Simon Zoller. Gemeinsam mit Zulj bildet er das gefährlichste Angriffsduo der Zweiten Liga. Auch beim 0:3-Auswärtserfolg in Düsseldorf am vergangenen Montag steuerte Zoller den Führungstreffer bei. Durch den Sieg steht Bochum mit zwei Punkten Vorsprung auf den Hamburger SV an der Tabellenspitze. Manuel Riemann im Tor, der auch immer ein wenig zwischen Genie und Wahnsinn wandelt, spielt auch eine überdurchschnittliche Saison. Doch wirklich jemanden herauszuheben aus der geschlossenen Bochumer Mannschaft ist in diese Zeiten schwer. Für den derzeitigen Erfolg ist kein einzelner Spieler verantwortlich, vielmehr ist es die Mannschaft in Gänze, die einen gefestigten Eindruck macht.
Endlich eine Perspektive
So kommt es, dass die Bochumer nun etwas haben, was es lange nicht mehr gab: eine sportliche Perspektive. Bis jetzt ist der VfL zudem mit einem blauen Auge durch die Corona-Krise gekommen – auch wenn er, wie jeder andere Verein auch, erheblich unter den fehlenden Zuschauereinnahmen leidet. Die Sponsoren aus dem Ruhrgebiet konnten aber durch die guten sportlichen Ergebnisse bei Laune gehalten werden, das gute Abschneiden im DFB-Pokal sorgte dann auch für einen entspannteren Blick auf das Vereinskonto. Sollte der VfL in die Bundesliga zurückkehren, wäre es ein finanzieller Quantensprung.
Darüber reden will in Bochum derzeit aber niemand. „Es tut gut, dass wir oben mitspielen und nicht mehr nach unten schauen müssen", sagt Aufsichtsratschef Hans-Peter Villis, der seit elf Jahren den Verein führt. „Aber wir haben unsere Erfahrung gemacht hinsichtlich öffentlich geäußerter Ziele." Vorbeugen will der dadurch einer zu großen Erwartungshaltung, die in der Vergangenheit eher für Enttäuschung sorgte. Die kommenden Wochen werden dabei Wochen der Entscheidung. Der Einzige, der bereits hat durchscheinen lassen, dass er aufsteigen will, ist der Cheftrainer. „Ich will den VfL da hinführen, wo er hingehört", sagte er. Doch da stand der VfL nicht auf einem Aufstiegsplatz. Diese Aussage stammt aus dem September 2019, als Thomas Reis gerade zu seinem Herzensclub zurückgekehrt war. Die wenigsten hätten ihm das zugetraut – derzeit straft er alle Zweifler Lügen. Hätten sie den Ur-Bochumer, der eigentlich keiner ist, nur schon früher zum Cheftrainer gemacht.