Auf der japanischen Inselgruppe Okinawa sind mehr als 900 der 1,3 Millionen Einwohner 100 Jahre und älter. Forscher sind überzeugt, dass vor allem die gesunde Ernährung der Bewohner über ihre Lebenserwartung entscheidet.
Jeden Morgen betet Haru Miyagi zu ihren Ahnen. Es ist ihr Ritual. Sie richtet sich den kleinen Hausaltar, ihren Butsudan, her und zündet Räucherstäbchen an. „Passt auf meine Familie auf und auf mich", bittet sie ihre Vorfahren dann. „Danke für meine Gesundheit! Danke für mein gutes Leben und diesen Tag."
Es ist ein Ritual, das für Haru Miyagi zu jedem Morgen gehört wie die selbstgekochte Misosuppe und ihre Zeitung. Fast andächtig sitzt sie im Sessel, aufrecht, ihr silbernes Haar hat sie zurückgekämmt. Aus einem Kännchen schenkt sie sich grünen Tee ein. Ihre Wohnung, ausgelegt mit Tatami-Matten aus Reisstroh, hat sie frisch geputzt. Sie ist froh, dass sie das noch alleine schafft, sagt sie. Mittlerweile ist sie 102 Jahre alt und lebt noch immer allein.
In der Heimat von Haru Miyagi keine Besonderheit. Das Küstendorf Ogimi liegt im Norden von Okinawa, einer Inselkette am südlichsten Zipfel des japanischen Archipels, gut 1.500 Kilometer und zweieinhalb Flugstunden von Tokio entfernt. 160 Inseln zählen dazu, keine 50 davon sind bewohnt. Von den 1,3 Millionen Bewohnern sind mehr als 900 100 Jahre und älter. Prozentual gesehen fünfmal so viele wie in Deutschland. Okinawa zählt zu den „Blauen Zonen", jenen fünf Regionen der Welt, in denen Menschen viel länger als der Durchschnitt leben: Auch Ikaria in Griechenland, Sardinien in Italien, die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica und die Stadt Loma Lina in Kalifornien zählen dazu. Ein Paradies für Altersforscher, die das Phänomen der Langlebigkeit ergründen wollen. Monat für Monat pilgern Wissenschaftler, Journalisten, Touristen auf Spurensuche nach Okinawa, immer auf der Suche nach den Geheimnissen der Greise.
Forscher sind überzeugt, dass vor allem die gesunde Ernährung der Inselbewohner über ihre Lebenserwartung entscheidet. Hinzu kommen die Gene, das tropische Klima, ein aktiver Lebensstil, ein enges soziales Netzwerk von Kindesbeinen an. Wer mit den Alten von Okinawa spricht, merkt schnell: Jeder hat sein persönliches Ikigai. Einen Grund, am Morgen aufzustehen, einen Sinn im Leben. Für Haru Miyagi ist das schlicht: „Einfach leben, immer weitermachen – und gar nicht so viel darüber nachdenken." Ein Wort für Ruhestand gibt es nicht auf Okinawa.
Im Garten pflanzt Haru Tomaten. Sie kann sich nicht mehr so gut bücken, es ziept und zwickt gerade in den Knien. Sie hat eine Brille, doch die braucht sie nur selten. Sie hat einen Rollator vor der Haustür stehen, doch meidet ihn, wann immer es geht. „Wir waren immer ein armes Dorf von Fischern und Landwirten. Die Leute hatten nicht viel", sagt sie. „Darum sind wir so stark." Wenn man ihr glauben will, halten ein wenig Verzicht und Entsagung jung, nicht der Überfluss. Es war die Entbehrung, die sie zu den Schätzen vor der Haustür greifen ließ. Auf den Teller kommt bei ihr seit jeher, was es vor ihrer Haustür gab, erschwinglich und zugänglich.
„Kannst du mir zeigen, was du normalerweise zu Mittag isst?", fragte Emiko Kinjo Frauen wie Haru Miyagi. Sie hat die Geheimnisse der Alten gesammelt, der Obaa, wie sie die Großmütter Okinawas nennen. Sie besuchte die Hundertjährigen in ihren Gemüsegärten, blickte in ihre Kochtöpfe und hat aus den Rezepten ihres Lebens Menüs der Langlebigkeit kreiert. Den Schatz, den sie sammelte, will sie für die kommenden Generationen erhalten. In ihrer Küche konserviert sie die Weisheit eines besseren Lebens. Emiko Kinjo ist Mitte siebzig und mittlerweile so etwas wie die Botschafterin der Esskultur Okinawas. Vor dreißig Jahren hat sie ihr rustikales, kleines Restaurant eröffnet, „Emi no Mise". Was hier auf den Teller oder in die Bento-Box kommt, ist ein Querschnitt des okinawischen „Superfood", den traditionellen Lebensmitteln Okinawa. Emi hat die Geheimnisse der Insel in ein Menü gepackt: Sie serviert kleine Häppchen, jeweils einen Bissen, die im Zusammenspiel alles bieten, was die moderne Ernährungswissenschaft für gut und gesund hält: Asa und Mozuku, das Seegras, Handama, eine Art Spinat. In den Gärten wächst Shikuwasa, eine einheimische Zitrusfrucht. Aus den dunkelviolett gefärbten Süßkartoffeln, Imo genannt, entstehen kleine runde Küchlein. Neben Tofu und Bohnen serviert Emi ein winziges Stück Rafute, gekochter Schweinebauch. Das Fleisch wird unter Abschöpfen des Fetts und mit einem Schuss Awamori gargeköchelt, Japans älteste Spirituose, hergestellt aus Reis und dem schwarzen Kōji-Pilz. Am Ende ist es so zart, dass die Fasern auf der Zunge zerfallen. Es ist die Regel Nummer eins der Küche Okinawas: Viele der Spezialitäten Okinawas erfordern Geduld. Langsam kochen, sich Zeit nehmen beim Zubereiten und beim Essen. Regel Nummer zwei: „Hara hachi bu!" Das bedeutet: Nie zu viel essen und sich den Bauch vollschlagen, sondern aufhören, sobald der Magen zu achtzig Prozent gefüllt ist. Im Durchschnitt nehmen die Bewohner Okinawas täglich so nur 1.800 Kalorien zu sich, rund ein Viertel weniger als der durchschnittliche Deutsche.
Wenn Emiko Kinjo die Botschafterin ist, so ist das Wahrzeichen Okinawas picklig-warzig und krumm: Kinjo schneidet eine der traditionellen Bittergurken in dünne Scheiben und brät sie scharf an. Die Gōyā gehört zu den Kürbisgewächsen, sie enthält viel Vitamin A und C, strotzt vor Eisen und Kalzium. Im Vitamin- und Mineralstoffgehalt gibt es kaum ein Nahrungsmittel mit ähnlich hohen Werten. Sie soll die Blutgefäße schützen und bei Altersdiabetes helfen, der Bitterstoff wirkt sich positiv auf die Schleimhäute des Verdauungssystems aus. In Asien gilt sie als Heilmittel.
Alles wird in kleinen Portionen serviert
Allgemein wird mit sehr wenig Salz gekocht und das Mahl in kleinen Portionen serviert, erklärt Emi. Sie experimentiert mit Ingwer und würzt mit Wildkräutern.
Gilt die fettarme japanische Kost schon als besonders gesund und ausgewogen, dann ist die Küche Okinawas vorbildlich. Sie ist fettarm und kohlehydratreicher als die Gerichte auf dem japanischen Festland. Der Lebensstil der Menschen auf Okinawa wurde ausführlichen Analysen unterzogen – mit dem Schluss, dass sich die Bewohner Okinawas ballaststoffreich, kalorienarm und nahe am Vegetarismus ernähren: Nicht Fleisch, sondern Tofu und Fisch sind die wichtigsten Eiweißlieferanten, Hülsenfrüchte und Nüsse.
Im kleinen Küstendorf Ogimi, im grünen Norden der Hauptinsel, wo die meisten der Superalten leben, ist die Luft feuchtwarm und schmeckt nach Salz. Türkis glitzert der Pazifik, nur wenige Schritte von Emis Restaurant entfernt. An der Straße wachsen Palmen, der Hibiskus blüht feurig rot. An jedem der kleinen Häuser reißen Löwen aus Keramik und Stein, Shisa genannt, wie Wachhunde ihre Mäuler auf. Sie sollen das Böse fernhalten. Rund 3.000 Einwohner leben verstreut in kleinen Tälern, eingerahmt vom Ozean und sanften Hügeln. Zehn von ihnen haben die 100 überschritten. Stolz schmücken sich die Bewohner mit einem Titel: „Dorf mit der höchsten Lebenserwartung Japans". Das Sprichwort der Greise: „Mit 70 bist du ein Kind, mit 80 ein Jugendlicher, und mit 90, wenn dich deine Ahnen in den Himmel rufen, bitte sie zu warten, bis du 100 bist. Dann könntest du drüber nachdenken." Sie haben es in einen Gedenkstein gemeißelt, der neben einem sanft plätschernden Wasserfall am Ortseingang errichtet wurde.
„Ich bewundere, in welcher Harmonie die Menschen hier mit und von dem Land und Wasser leben", sagt sie. „Die Nahrung, die du jeden Tag aufnimmst, sollte die Kraft der Erde und des Meeres in sich haben." „Ihr Ziel sei es immer gewesen, die Harmonie zu wahren, „das Gleichgewicht zwischen den Elementen." Wer am Strand entlang spaziert, stößt nicht nur auf Fischer und Taucher. Alte Damen sammeln Muscheln, auf dem steinigen Boden sitzend graben sie zwischen den Steinen danach. Mit Forken stöbern sie nach Schnecken auf dem Meeresgrund. Die Hälfte der Einwohner lebt von der Fischerei – oder Landwirtschaft. Grün bewucherte Berghänge erheben sich, undurchdringlicher Dschungel, Obstplantagen. An fast jedem der kleinen Häuser in Ogimi grenzt ein Garten.
Viele auf Okinawa setzen Nahrung gleich mit Medizin. Lebensmittel sind Heilmittel. Eine gesunde Ernährung ist die beste Prävention. Das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Krebs und Diabetes zu erkranken, ist bei den Menschen, die die traditionelle Lebensweise pflegen, deutlich geringer als in westlichen Industrienationen. 1976 begann der mittlerweile emeritierter Gerontologe Makoto Suziki die weltweit längste Studie dieser Art auf Okinawa. Über Jahrzehnte hinweg untersuchten sein Team und er mehr als 900 Hundertjährige.
Die Zwillingsbrüder Craig und Bradley Willcox erweiterten das Forschungsteam und landeten mit ihrem „Okinawa Programm" inklusive Kochrezepten einen Bestseller.
Mit den Amerikanern kam auch das Übergewicht
Doch kaum einer auf Okinawa ernährt sich heute noch so wie die Großeltern. Was im Norden Okinawas, in Dörfchen wie Ogimi noch gelten mag, ist in den Städten, wo der Großteil lebt, längst Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg besetzten die Amerikaner Okinawa, Schauplatz der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Die Inselgruppe ist für sie bis heute der wichtigste Militär-Stützpunkt im pazifisch-asiatischen Raum. Und der Fleck Japans, wo die westliche Ernährungsunkultur nicht nur in der Hauptstadt Naha als erste Einzug hielt: Filialen von KFC, McDonalds und der Eiscreme-Kette Blue Seal gibt es an jeder Ecke. Burger, Pommes, Sahnetorte, kalorienreich und nährstoffarm.
Während zwischen 1970 und 1990 Okinawa sämtliche Statistiken des japanischen Gesundheitsministeriums als Spitzenreiter anführte und lange als die Präfektur mit der höchsten Lebenserwartung galt, rutschte sie immer weiter nach hinten. Mittlerweile führen die Menschen aus Okinawa eine andere Rangliste: Spitzenreiter in Übergewicht. Vor allem mehr Fett, industriell verarbeitete Lebensmittel, haben den Speiseplan erweitert. Die Superalten bleiben superfit. In der Altersgruppe zwischen 20 und 60 hingegen sind die Menschen Untersuchungen zufolge dicker und kränker als im übrigen Japan. Die Jungen übernehmen längst nicht mehr die Lebensgewohnheiten der aktiven Alten. Während sich Menschen wie die 101-jährige Haru ihr Leben lang zu Fuß bewegten, schieben sich durch die Städte Autos und Roller.
Im letzten Zensus aus dem Jahr 2015 lagen Okinawas Frauen mit 87,4 nur noch auf dem siebten Platz, die Männer auf Platz 36 von 47, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80,2. Damit ist Okinawa bestenfalls noch Mittelmaß. Dass Okinawa auf der Liste immer mehr nach hinten rutscht, hat noch einen Grund: Überall, im ganzen Land und weltweit, steigt die Lebenserwartung. Andere Präfekturen Japans haben lediglich aufgeholt.
In keinem Land der Welt gibt es derzeit prozentual mehr Hundertjährige als in Japan. Mittlerweile leben dort 69.785 Menschen im Alter von 100 oder mehr Jahren, wie das Gesundheitsministerium in Tokio mitteilte. Ein neuer Rekord. Experten schätzen, dass in fünf Jahren mehr als 100.000 Japaner 100 Jahre oder älter sein werden. Zu Beginn der Aufzeichnung 1963 waren es gerade einmal 153 Hundertjährige. Geburtstage von Hochbetagten werden überall zunehmen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird sich die Zahl der über 100-Jährigen bis 2050 auf 4,1 Millionen Menschen steigern.
Die Regionalregierung von Okinawa, das sich gern mit dem Titel der „Insel der Hundertjährigen" schmückt, kämpft gegen den Abwärtstrend an. Es gibt Kochschulen, die die okinawische Küche fördern sollen, auf Blogs werden die Rezepte geteilt, es gibt, wie in ganz Japan üblich, Bewegungsprogramme für Senioren. Auch Haru Myagi geht einmal in der Woche ins Gemeindezentrum, macht Gymnastik, tauscht sich mit anderen Alten aus. Sie wird untersucht, der Blutdruck gemessen. Gemeinsam heben die Alten die Arme, lassen die Füße kreisen, singen zusammen. Sie sollen lange fit bleiben, mobil und eigenständig.
Die Uhren ticken langsamer auf Okinawa und die Insulaner anders als „die vom Festland, wo alles viel hektischer ist", sagt Morio Taira, ein Fischer, der direkt am Meer lebt. Mit 86 zählt er noch zu den Jungspunden in Ogimi. Sein Haar ist weiß, sein Gesicht nahezu faltenfrei. Er trägt gern bunte Hemden. Den ganzen Tag lächelt er sanft in sich hinein. Seine ganze Familie ist an diesem Samstag zusammengekommen, vier Generationen versammeln sich um den voll gedeckten Tisch, voll mit selbst gefangenem Fisch und Meeresfrüchten, mit Algensalat und Süßkartoffeln. Einmal im Monat trifft sich die ganze Sippe. Urenkel Ryuku, 5, misst seine Kräfte und schubst den Uropa durch das Wohnzimmer, zupft mit ihm an den drei Saiten der Sanshin, einem traditionellen Instrument, bespannt mit Schlangenhaut.
An diesem Abend findet das jährliche Rennen der Drachenboote, Harai, statt. Morio Taira, als Vorsteher der Gemeinschaft der Alten im Dorf, so etwas wie der Chef der Greise von Ogimi, eröffnet den Wettkampf. Er steht am Strand, eine rote Flagge in der Hand. Turngruppen, Familienzusammenkünfte, Dorffeste, Traditionen, Rituale: Auch das gehört zum Alltag auf Ogimi. Der Terminkalender von Morio Taira ist voll. „Tu, was du liebst, und lebe länger", das ist die Bedeutung von „Ikigai", jener Lebensphilosophie der Menschen von Okinawa. Das Ikigai von Morio Taira sind seine Enkel und Urenkel, das tägliche Fischen, die Treffen mit seinen Freunden.
Rüstige Neunzigjährige sitzen auf der Mauer am Ozean, lassen die Beine baumeln, zwei alte Damen schenken Getränke aus, verteilen kleine Bananen an die Teilnehmer. Sie danken und ehren mit ihrem Fest den Göttern des Meeres, aus dessen Fülle sie schöpfen. Spricht man Morio Taira auf das Geheimnis seiner fast ewigen Jugend an, lächelt er noch ein wenig mehr: „Wir werden nicht nur alt, wir sind dabei auch gesund und glücklich."