Andreas Neumann-Witt ist Leiter des Berliner Notdienstes Kinderschutz. Der diplomierte Sozialarbeiter und Sozialpädagoge spricht über Mädchen als besonders gefährdete Gruppe, die Aufgaben des Notdienstes und die Folgen der Corona-Krise.
Herr Neumann-Witt, welche Angebote macht der Berliner Notdienst Kinderschutz?
Wir sind eine Einrichtung der Berliner Senatsverwaltung. Wir haben ein breites Hilfeangebot für Kinder, Jugendliche sowie für Straßenjugendliche, die in Not geraten. Zu den Aufgaben zählen Beratung, Betreuung, Notversorgung, Notübernachtung und Sozialarbeit an Brennpunkten der Stadt.
Gemessen an der Lebenszeit macht die Pandemie für Kinder und Jugendliche einen wesentlichen Teil ihres Erfahrungshorizontes aus. Wie erlebt diese Generation Ihrer Einschätzung nach die Corona-Krise und die verordneten Maßnahmen?
Wir haben immer nur einen sehr kurzen Einblick. Grundsätzlich haben wir einen gleichbleibenden Eindruck. Die Kinder und Jugendlichen haben ganz ähnliche Problem wie vorher. Sie leiden unter Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung oder Zwangsheirat. Bei Jugendlichen treten oft Ablösungskonflikte von der Familie auf. Während des Lockdowns können solche Konflikte schnell eskalieren. Für die Kinder ist es schwierig, dass es zu Hause enger wird und dass die Eltern unter Stress stehen. In manchen Fällen sind die Kinder bedrückt durch Corona. Es entstehen zum Beispiel Ängste, dass sie sich oder andere anstecken könnten. Viele Kinder haben Schwierigkeiten, nicht rausgehen zu können. Dabei ist der Kontakt zu Gleichaltrigen sehr wichtig für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Ausgangsbeschränkungen betreffen ja vor allem Jugendliche. Das wird Folgen haben.
Laut der Hamburger Copsy-Studie hat sich im Verlauf der Corona-Krise der psychische Zustand von Kindern zunehmend verschlechtert. Fast jedes dritte Kind leidet mittlerweile unter psychischen Auffälligkeiten. Haben Sie in Ihrer Einrichtung ähnliche Beobachtungen gemacht?
Ich habe von dieser Studie gehört. Wir können aber wenig dazu sagen, weil wir nicht im Alltag der Kinder sind, sondern immer nur in Brennpunktsituationen zum Einsatz kommen. Wie es den Kindern im Alltag mit Corona geht, müssten Psychologen oder Ärzte sagen. Ich gehe auch von einer hohen Dunkelziffer aus, aber bei der Dunkelziffer sind wir im Rahmen der Vermutung.
In Ihrer Einrichtung gibt es speziell auch einen Mädchennotdienst. Sind Mädchen aufgrund von Lockdown-Maßnahmen besonders gefährdet, verstärkt Opfer von Gewalt zu werden?
Mädchen sind generell eine Gefährdeten-Gruppe. Insbesondere, wenn Autonomiebeschränkungen zunehmen, wäre zu vermuten, dass auch die Gewalt an Mädchen zunimmt, aber ich kann es nicht belegen. Durch Lockdowns haben die Mädchen auch einen schlechteren Zugang zu Hilfeeinrichtungen. Um genau an dieser Stelle einzugreifen, hat die Senatsverwaltung für Jugend Plakatkampagnen zu häuslicher Gewalt mit einer Hotline-Rufnummer gemacht. Dort können die Menschen anrufen und ihre Sorgen um einen möglichen Missbrauch loswerden. Die Jugendämter gucken dann, ob durch die Jugendhilfe der jeweiligen Familie ein Kontaktangebot gemacht werden kann. Generell sehen wir keine signifikanten Steigerungen, aber es fahren ja auch weniger Leute mit den U-Bahnen. Es ist immer die Frage, wie man die Zielgruppen erreicht.
Die Studie ist auch zu dem Ergebnis gelangt, dass vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund betroffen sind. Teilen Sie diese Einschätzung ebenfalls?
Das haben wir auch schon vor der Krise so erlebt. Das Zusammenleben auf engem Raum bedingt mehr Konflikte. Der Kindernotdienst bietet jeweils an einem Tag in der Woche Beratungen auf Türkisch, Russisch und Arabisch an. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die in ihrer Muttersprache beraten werden, sich leichter verstanden fühlen. Viele sprechen zwar gut Deutsch, fühlen sich aber sicherer, wenn sie sich zu heiklen Themen in der Sprache ihrer Heimat ausdrücken können.
Wie erreichen Sie all die Kinder und Jugendlichen, die aufgrund ihrer besonderen Situation möglicherweise vergessen werden? Ich denke da zum Beispiel an Minderjährige in Unterkünften für Geflüchtete und an Kinder in Abschiebehaft.
Die Senatjugendverwaltung hat ein extra Schulungsteam, das die Mitarbeiterinnen, die in Unterkünften für Geflüchtete arbeiten, berät. Dadurch können die Sozialarbeiter vor Ort schneller eingreifen, bevor eine Familie in die Krise rauscht.
Und Kinder, die sich mit ihren Familien in Abschiebehaft befinden?
Das kann nicht sein. Kinder dürfen nicht in Haft.
Trotzdem haben vereinzelt Medien darüber berichtet. Der Flüchtlingsrat Brandenburg kritisiert die Landesregierung, die einen Ausreisegewahrsam am Flughafen Berlin-Schönefeld in Betrieb genommen hat. Dort dürfen laut Flüchtlingsrat auch Familien mit Kindern inhaftiert werden.
Mir ist nichts bekannt davon.
Wie sähe Ihr persönliches Wunschkonzert aus, damit es Kindern und Jugendlichen so gut geht, dass die Kindernothilfe nicht mehr nötig ist?
Schöne Utopie. Wäre ja schön, wenn wir die Feuerwehr nicht mehr bräuchten, weil es keine Unfälle mehr gibt. Und die Polizei, weil es keine Diebstähle mehr gibt. Wenn die Außenbelastung stark ist, können die Familien nicht mehr so flexibel reagieren. Konflikte gehören mit zum Leben. Aber wenn man die sozialen Bedingungen ändert, sind die Familien entspannter, um Konflikte zu lösen.