Obwohl die Bundesregierung die Notbremse gezogen und bisherige Restriktionen weiter verschärft hatte, startete Schleswig-Holstein am 19. April an der Schlei sein akribisch vorbereitetes und wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt. FORUM-Autorin Ursula Wiegand hat sich das angeschaut.
ie dringend der Wunsch nach etwas Erholung in der dritten Corona-Welle war, hatte sich bereits in den Osterferien gezeigt. Trotz aller Reiseverzicht-Appelle flüchteten rund 40.000 Deutsche in vollen Fliegern nach Mallorca, als die Insel vom Robert Koch-Institut nicht mehr als Risikogebiet eingestuft wurde. Im Gegensatz dazu herrschte in Deutschland ein strenges Beherbergungsverbot. Selbst das eigene Haus auf Rädern hatte keine Chance, da die Campingplätze ebenfalls geschlossen waren.
Vielleicht waren es auch die Fernsehbilder aus Mallorca, dass Schleswig-Holstein das wohl vorbereitete Modellprojekt nicht kippte. Ob ein Sommerurlaub unter Pandemie-Bedingungen möglich sei, war der Sinn dieses mutigen Versuchs. Nach intensiver Prüfung der Corona-Zahlen und Hygienekonzepte hatte man vier Kandidaten für das vierwöchige Modellprojekt ausgewählt: An der Ostsee waren es Eckernförde mit der Schlei-Region sowie die innere Lübecker Bucht. An der Nordsee fiel die Wahl auf den Kreis Nordfriesland mit Sylt und den Dithmarscher Urlaubsort Büsum.
Dass selbst bei den „Auserwählten" nicht alle sogleich fröhlich „Hurra" riefen, ist bekannt. Würden manche Gäste das Coronavirus mitbringen, fragten sich einige bang. Ein Abbruch dieses Versuchs war ebenso eingeplant wie eine Verlängerung. Auf alle Fälle musste die Sieben-Tage-Inzidenz unter 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner liegen. Doch „Probieren geht über Studieren", lautet ein altes Sprichwort und hat sich in positiver Weise bewahrheitet.
Diese Vorgaben schaffte zuverlässig Eckernförde mit der Schlei-Region, startete schon am 19. April und blieb zunächst das einzige Versuchsobjekt. Stattdessen musste die Lübecker Bucht den Start zweimal verschieben. Auch an der Nordsee hatte man anfangs Bedenken. Also schon mal im April an Schleswig-Holsteins Ostsee? Diesen Strohhalm haben viele Erholungssuchende sofort ergriffen. Die Nachfrage übertraf alle Erwartungen.
Nur überprüfte Betriebe durften beim Modellprojekt mitmachen. An der Schlei beteiligen sich 620 Ferienhäuser und -wohnungen, 22 Hotels, 30 Campingplätze, 32 Agenturen und vier Häfen an dem Projekt, weiß Max Triphaus, Geschäftsführer der Ostseefjord GmbH.
Antigentest und die Luca-App
Also haben wir stundenlang die Liste im Internet durchforstet und am Telefon gehangen. In und um Eckernförde war das Passende schon ausgebucht, in der Schlei-Region hatten wir schließlich doch noch Glück.
Also schnell Koffer packen und losfahren? Nein. Zuerst war ein Formular auszufüllen: „Einwilligung des Gastes zur Teilnahme an dem Modellprojekt und zur Verarbeitung der Daten" und geschwind zurückzusenden. Mitzubringen waren ein Antigentest nicht älter als 48 Stunden und die Luca-App auf dem Smartphone zwecks digitaler Rückverfolgung.
Doch was soll’s. Endlich mal raus aus der Großstadt und weg vom Homeoffice. Nördlich von Kiel begleiten uns bereits Wiesen und goldgelbe Rapsfelder. Norderbrarup heißt unser Ferienort, anzufahren über Süderbrarup. Beides klingt recht dänisch. Tatsächlich gehörten Schleswig und Holstein geraume Zeit bis zum Wiener Kongress im Jahr 1815 zu Dänemark. In Süderbrarup fallen uns gleich zwei große Supermärkte und das Testzentrum auf. Dort können wir uns, wie vorgeschrieben, alle drei Tage testen lassen. Noch mehr staunen wir jedoch über die recht zahlreichen Häuser mit ihren Reetdächern, auch unser Ferienhaus gehört dazu. Vorne roter Klinker, zur sonnigen Gartenseite weiß getüncht und drinnen sehr gut und fantasievoll eingerichtet. Den Kachelofen im Wohnzimmer werfen wir lieber nicht an und fahren gleich noch ins zwölf Kilometer entfernte Fischerstädtchen Kappeln an der Schlei. Die ist kein Fluss, sondern ein 42 Kilometer langer Meeresarm, genannt Ostseefjord, der sich bis zur Landeshauptstadt Schleswig erstreckt.
Die Windmühle Amanda in der hübschen Altstadt gilt als Wahrzeichen von Kappeln, doch noch mehr lockt das Wasser. Mehrere Angler versuchen zwischen der Klappbrücke und dem rotweißen Schaufelraddampfer ihr Glück. Mississippi-Feeling an der Schlei, wer hätte das gedacht! Die nostalgischen Dreimaster jenseits der Klappbrücke gefallen uns jedoch besser. Auf der breiten Promenade reihen sich die Restaurants. Nur Außengastronomie war Anfang Mai möglich, doch Plastikplanen, Scheiben und Wolldecken schützten die Gäste vor kühlen Winden. Da die Lübecker Bucht zunächst nicht mitmachen konnte, erreichte die Gästezahl Hochsommerniveau, doch nirgendwo wurde gedrängelt. Abstandswahrung und Maskentragen waren und sind selbstverständlich.
Unser erster Tagesausflug gilt Haithabu nahe Schleswig, der angeblich größten Wikinger-Festung und seit 2018 ein Unesco-Weltkulturerbe. Rund 300 Jahre lang bis 1066 war Haithabu das wichtigste Handelszentrum im Norden Europas. Feines aus dem Orient wurde ebenso gehandelt wie Produkte aus dem Umland und weit darüber hinaus. Handwerker versorgten die Bevölkerung mit dem Nötigsten und verkauften auch ihre Waren. Sieben der damaligen Holzhäuser hat man nachgebaut, unter anderem das Haus des Kammmachers, des Tuchhändlers und die einstige Herberge.
Die Strandkörbe warten auf Gäste
Haithabu wurde eine reiche Stadt mit zeitweise bis zu 1.500 Bewohnern. In den Gräbern der Reichen wurden goldene Schmuckstücke gefunden, und im zugehörigen Museum wird alles genau erklärt. Der Star ist ein Langschiff der Wikinger, das anhand von gefundenen Holzteilen rekonstruiert wurde. Harte Männer haben sie gerudert und den Stürmen getrotzt.
Kurz ist die Entfernung von Haithabu bis zur Landeshauptstadt Schleswig. Schon von Weitem prägt der Turm des St.-Petri-Doms aus dem 12. Jahrhundert das Stadtbild. Hinein können wir nicht, denn bis auf den Turm ist das Bauwerk eingerüstet und nicht zugänglich. Ein großes Schild verheißt die Wiedereröffnung noch im Mai. Ob dieser Termin gehalten werden kann? Durch Kopfstein gepflasterte Straßen traben wir statt Dombesichtigung ostwärts zur ehemaligen Fischersiedlung Holm, danach gen Norden zum Rathausmarkt. Vor kleinen Häusern laden dort Tische, Stühle und Strandkörbe zum Pausieren ein. Die gehören zum „Senator Kroog" von 1884. Spargel- und Fischgerichte stehen auf einer schwarzen Tafel, und sie werden das leckerste Essen in unserer Urlaubswoche.
Das „Alte Ratscafé" um die Ecke, gegenüber dem großen weißen Rathaus, ist allerdings geschlossen, doch Leckermäuler müssen nicht darben. Dafür sorgt, wie ein Aushang kündet, das „Schleswig Torten Taxi". Schleswigs Schloss Gottorf auf der Museumsinsel heben wir uns für einen Regentag auf. Exponate aus fünf Jahrhunderten wollen wir nicht im Schnelldurchgang abhaken.
Mal Sonne, mal Regen, das scheint im Norden Deutschlands üblich zu sein, doch Eckernförde erleben wir bei prallem Sonnenschein. Ein Corona-Mobil nahe dem Parkplatz sorgt fürs eventuell nötige Testen, um in der Fußgängerzone sogleich shoppen zu können.
Doch weit mehr zieht es uns an den Kurstrand. Die Strandkörbe sind schon aufgestellt, Kinder spielen im Sand. Vertäute Oldtimer-Großsegler, umfunktioniert zu Hotels und Restaurants, warten noch auf Gäste, während bunte Fischerboote und weiße Segelyachten die Augen erfreuen. Gar nicht zu übersehen ist der ungewöhnliche Rundspeicher, ein Backsteinbau aus den 1930er-Jahren nahe der erhaltenen hölzernen Klappbrücke, die hinüberführt in den Stadtteil Borby mit der Borbyer Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Auch nicht zu übersehen ist ein Aufsteller, der auf Hermann Hinrichs „Bonbonkocherei" in der Frau-Clara-Straße 22 hinweist. Bonbons oder edle Schokolade, das ist dort die Frage.
Unser Lieblingsort, eine schwierige Entscheidung, wird Arnis, die kleinste Stadt Deutschlands, gegründet 1667 von 62 Schifferfamilien aus Kappeln, die der Leibeigenschaft des Gutsherrn entgehen wollten. Kleine Giebelhäuser reihen sich an der Langen Straße. Kaum standen die ersten Häuser, begannen die Wegzügler mit dem Bau der Schifferkirche, die 1673 geweiht wurde. Die Tür ist offen.
Über dem schneeweißen Kirchengestühl hängen Votivschiffe, eines mit geblähten Segeln. Die Barockorgel ist auch erhalten. Die Bewohner von Arnis pflegen offensichtlich dieses Kirchlein. Nur wenige Schritte sind es nun bis zum Mini-Hafen. Ein Spaziergang auf dem Uferweg wird zum Muss. Schade, dass das „Restaurant Strandhalle" geschlossen ist. „Kiek mol wedder in" ermuntert ein Ständer, und vermutlich ist das inzwischen der Fall. Denn das Modellprojekt Eckernförde mit der Schlei-Region wurde schnell zum Vorbild. Am 1. Mai startete das vorher zögerliche Sylt sein Modellprojekt, am 8. Mai gaben sich die Orte in der Lübecker Bucht einen Ruck, und ab 10. Mai schloss sich Büsum an.
„Mit dem Verlauf sehr zufrieden"
Als das feststand, entschieden schon am 5. Mai Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther und seine „Crew", die generelle Öffnung von Gaststätten, Hotels, Pensionen und Campingplätzen schon ab 17. Mai. Die Hygienemaßnahmen bleiben erhalten, doch offene Türen statt Beherbergungsverbot waren eine unerwartet frühe und frohe Botschaft.
„Mit dem Verlauf unseres Modellprojektes bin ich sehr zufrieden. Unsere Betriebe haben die Chance der Öffnung genutzt und den Beweis erbracht, dass ein sicherer Tourismus in Pandemie-Zeiten möglich ist. Die Nachfrage ist sehr groß, die Gäste sehr verständnisvoll. Unsere Erwartungen wurden weit übertroffen. Wir haben im Rahmen des Modellprojektes zu Bedingungen wie in der Hochsaison gearbeitet und doppelt so viele Gäste beherbergt wie in einem normalen Frühjahr", sagt Max Triphaus. „Da wir das einzige touristische Modellprojekt in Deutschland waren, das bereits am 19. April gestartet ist, war die Aufmerksamkeit bundesweit immens, wodurch die Bekanntheit der Region bereits deutlich zugenommen hat. Der erfolgreiche Verlauf des Projektes bringt zudem einen riesigen Imagegewinn mit sich, von dem wir über die Saison 2021 hinaus profitieren werden." Und auch die Gäste.