Auf der Insel Alsen im dänischen Südjütland verbrachte einst Siegfried Lenz viele Sommermonate. Hier entstanden seine Romane „Die Deutschstunde" und „Heimatmuseum".
Das Land „zwischen den Meeren" – Sönderjylland, zu Deutsch Südjütland, gehört seit 1920 wieder zum Königreich Dänemark. Das alte nordschleswigsche Grenzland, zwischen Nord- und Ostsee, ist Epochen lang Zankapfel der Politik. Höhepunkt ist der für die Monarchie so verhängnisvolle Zweite Deutsch-Dänische Krieg. In der historischen Schlacht um die Insel Alsen unterliegen die Dänen am 29. Juni 1864 und das Gebiet kommt unter die Herrschaft des Preußischen Königs Wilhelm, des späteren ersten Deutschen Kaisers.
Heute werden hier Gottseidank ganz andere, friedfertige Schlachten geschlagen – Kuchenschlachten! Das in der gesamten Monarchie gerühmte „Sönderjysk Kaffebord" entsteht nach dem Drama 1864, als die neue preußische Verwaltung öffentliche Versammlungen in Gemeindehäusern nicht mehr zulässt. Schon gar keine, bei denen vaterländische dänische Lieder geschmettert werden. Schnapslizenzen dafür gibt es nun schon gar nicht von den Preußen. Also verlegen die Dänen ihre Kaffee- und Kuchentafeln ins Private, wo gesungen und der traditionelle Kaffee-Punsch mit viel Schnaps die Runde macht, ohne dass es die Deutschen verhindern können. Bis heute wird diese Tradition hoch gehalten. Einer der überzeugtesten Anhänger der „Südjütländischen Kaffeetafel" war ein Mann aus den ostpreußischen Masuren – Siegfried Lenz. Der Autor schreibt seine Hauptwerke auf der Insel Alsen. Die „hygge", gemütlich und mild wirkende Landschaft rund um Sönderborger/Sonderburger und Flensburger Förde, erinnert ihn an seine alte Heimat am Lycker See im heutigen Nordostpolen. Hier findet der vielleicht bekannteste Schriftsteller der damals jungen Bundesrepublik mit seiner ersten Frau Lilo von 1958 bis 1986 seine Sommerheimat in Leböllökke bei Höruphav. Im Laufe der fast 30 Jahre lernt er perfekt Dänisch und sogar den Alsener Dialekt.
„Die Deutschstunde" und „Heimatmuseum" entstehen in einem kleinen Fischerhaus ohne Fernsehen, ohne Telefon, aber mit Katze.
Helmut Schmidt kam regelmäßig vorbei
Vor ein paar Jahren habe ich noch die seit Kurzem leider verstorbene, dänische Lenz-Spezialistin Inge Adriansen kennenlernen können. Sie erzählte mir damals eine schöne Anekdote von ihrem Bekannten und Nachbarn von Lenz, der einen Fernsprecher besaß. „‚Lenz, Lenz, die Bundeskanzlei ist am Telefon!‘ – hieß es dann von Zeit zu Zeit, und der Autor sauste hinüber. Fast jedes Jahr kam Helmut Schmidt mit seinem Schiff nach Sönderborg und besuchte dann für ein paar Tage Siegfried Lenz." Die jahrzehntelange Freundschaft der beiden Ausnahmepersönlichkeiten, der eine gebürtiger, der andere „gelernter" Hamburger, hielt bis zum Tod des jüngeren Lenz am 7. Oktober 2014.
Lokalhistorikerin Adriansen, vormals Vize-Museumsdirektorin vom nahen Schloß Sönderborg, hielt damals bei meinem Besuch im „Restaurant Bind" einen Vortrag über den Schriftsteller. Die um sie herum schmausende Kaffeetafelrunde erfuhr damals:
„Er war ein großer Gourmet, und eine sehr nahe Freundschaft verband ihn mit Maître Christian Bind. Obwohl Lenz nach 1986 nicht länger sein Sommerdomizil in Dänemark hatte, ist er regelmäßig nach der Insel Fünen, aber auch nach Alsen und ins Grenzland gekommen. Hier im ‚Restaurant Bind‘ hat Lenz 2010 die Hochzeit mit seiner zweiten Frau Ulla gefeiert."
2010 hatte der 84-jährige Autor nach dem Tod von Lilo 2006 noch einmal Lebensmut und ein neues Lebensglück gefunden mit der Dänin Ulla Reimer, Nachbarin und jahrzehntelange Freundin des Ehepaares in Hamburg.
Der in Dänemark sehr bekannte Starkoch Christian Bind kann sich noch gut an den Erfolgsautoren erinnern. „Er war ein großer Mann in den Medien. Aber für mich ist er immer ein sehr, sehr freundlicher und ganz einfacher, bodenständiger Mensch geblieben."
Binds Gourmet-Restaurant in Krusaa bei Sönderhav entstand um 1900 als Sommervilla eines Hamburger Kaufmanns mit herrlicher Aussicht direkt auf die Förde. Sie liegt am alten Gendarmstien/Gendarmenweg. Der ist heute ein beliebter Fernwanderweg und folgt der alten Grenze zwischen Nordsee und der Insel Alsen.
Zusammen mit Adriansen hat der Meisterkoch aus dem Elsass einen Gedenkraum für seinen verstorbenen Schriftstellerfreund unter der Dachschräge des Jugendstil-Baus eingerichtet. Der Raum ist ausgestattet mit vielen Fotos und Büchern von Lenz. Die Möbel stammen aus dem Fischerhaus auf Alsen. Bind hat sie von einem Flensburger Buchhändler erwerben können. Lenz‘ zweite Frau Ulla brachte noch die Lampe, die jetzt wieder auf seinem Schreibtisch steht und auch seine Pfeifen und Tabaksdosen. Der Autor rauchte stark aromatisierten Knaster aus Schottland, verriet mir damals die Lenz-Kennerin schmunzelnd.
Dänische Kaffeetafel schon fast legendär
An den Wänden des Gedenkraumes sind Faksimile-Ausschnitte seiner „Alsener Inseltagebücher" ausgestellt, die er jeden Sommer verfasste. Mit Kuli hält er in gut leserlicher Handschrift dort unter anderem seine Gedanken zur „Deutschstunde" fest. Er schreibt da: „Ein pädagogischer Roman, die Strafarbeit eines schwer erziehbaren, jungen Mannes… Seit zwei Jahren bedacht und entworfen, und der Stau ist so groß, daß ich mich dem Anfang entgegenfreue."
Inge Adriansen hatte Lenz 2012 noch im hohen Alter kennengelernt, als sie das Nachwort für die dänische Fassung seiner kleinen, humorvollen Geschichte „Kummer mit Jütländischen Kaffeetafeln" schrieb. Im dänischen Text ist vom „Sönderjysk Kaffebord" die Rede, denn nur die „Süderjütische Kaffeetafel", so ihre Übersetzung, ist der in Dänemark zu Recht gerühmte und ob seiner Opulenz auch etwas gefürchtete Kuchenknaller. Es sollten immer mindestens sieben weiche Kuchen, etwa weiche Biskuitrolle, dabei sein, sowie das berühmte Wiener Bröd, das wir als Kopenhagener kennen. Des Weiteren sieben harte Kuchen, im weitesten Sinne Gebäck, (wie etwa Mürbeteigkringel mit Pflaumen). Eine besondere Leckerei und eine der Höhepunkte der „Schlacht" ist die Brottorte, aber bitte mit Sahne! Kaffebord-Kennerin Adriansen erklärte, was das ist:
„Dafür wird Roggenbrot gerieben. Daraus macht man den Teig, der ein bisschen sauer ist, aber einen sehr guten Geschmack gibt." Schwarze Johannesbeer-Marmelade, Sahne und der braune Teig werden dann übereinander geschichtet. Der weiße Sahnemantel wird eventuell noch mit Blaubeeren getoppt.
Wichtig beim „Kaffebord" ist das ständige Herumreichen der Kuchenplatten und das ständige Nötigen der Hausfrau, doch ja bitteschön keine Torte auszulassen! Traditionell findet das Ganze abends nach dem Essen statt. Es gibt Unmengen schwarzen Kaffees, Marke Herztod. Die regelmäßigen Kaffebord-Einladungen seiner Alsener Nachbarn führen bei Lenz 1981 zu dem, für das Merian-Magazin verfassten, „Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln", (in „Erzählungen" 2006 bei Hoffmann und Campe erschienen). Zunächst herrscht Schweigen in der Runde der Eingeladenen. Nur unterbrochen von einem „Jo", oder vielleicht gar einem „Jo, jo" der Männer, so schildert der Autor den Beginn. Gebutterte Milchbrötchen bilden den Einstieg in die „Schlacht". Mit der steigenden Zahl der Kuchenplattenrunden und gewaltigen Kaffeefluten „plaudert" die ganze Nachbarschaft angeregt, soweit bei dänischen wortkargen Bauern und Fischern möglich.
„Kaum hatte ich mich zurückgelehnt, als ein Hügel von kränklicher Weiße gebieterisch auf mich zuschwebte, die erste Großtorte, der Stolz der Hausfrau. Wie viele Schichten waren da verständig übereinander gelegt, der Boden erinnerte an Jütlands sandgraue Küsten, die Füllung an seine Torferde und beim Anblick der lastenden Sahneschichten mußte ich an jütländische Winter denken. Ich wäre in Andacht versunken, wenn Atemnot mir nicht zugesetzt hätte." Und danach folgten Napoleonschnitten – „ein mit Vanillepudding gefülltes Labsal" – und danach die Nußtorte mit Buttercreme und danach „Kringel, Schäumchen, Taler aus Mürbeteig, mit und ohne Schokolade" – die besagten sieben harten Kuchen. Gen Mitternacht nach Hause wankend, verbringt das Ehepaar Lenz den Rest der Nacht sitzend im Bett. Die fein beobachtete Geschichte „Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln" wäre ein humorvoller Anlass, sich wieder einmal mit dem vor mehr als sieben Jahren verstorbenen Erfolgsautoren und seinen Werken zu beschäftigen.